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Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis 1/2018

Open Access 14.08.2018 | Neue Versorgungslandschaften

Elektronisches Routine-Outcome-Monitoring (eROM) in Psychiatrie und klinischer Psychologie

eROM-Implementierungsbeispiel an der Universitätsklinik für Psychiatrie II in Innsbruck

verfasst von: Mag. Jonas Egeter, Lisa M. Wintner, Nathalie Huber, Gerhard Rumpold, Barbara Sperner-Unterweger, Harald R. Bliem, Bernhard Holzner

Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis | Sonderheft 1/2018

Zusammenfassung

Selbstberichte von Patienten („patient-reported outcomes“, PROs) ermöglichen eine systematische Sammlung, Auswertung und Dokumentation von Patientenangaben. Sie rücken die Sichtweise der Patienten in den Mittelpunkt und ermöglichen so individualisierte Behandlungsentscheidungen.
An der Station für Psychosomatische Medizin der Medizinischen Universität Innsbruck wurde in vier Schritten ein elektronisches Routine-Outcome-Monitoring (eROM) implementiert. Alle Patienten, die die Einschlusskriterien erfüllten, wurden ab Juni 2015 in das Programm eingeschlossen und bearbeiteten ein vorgegebenes Set von PRO-Instrumenten.
Von Juni 2015 bis Mai 2018 wurden 300 Patienten im Rahmen ihres stationären Aufenthaltes in das eROM eingeschlossen. Die Erhebung wird am Beispielverlauf der ersten routinemäßig befragten Patientin beschrieben, der sich über drei stationäre Aufenthalte erstreckte.
Das implementierte eROM ist eine praktikable Methode, um standardisiert PRO-Daten im Längsschnitt zu erheben und diese für die individuelle Behandlung zu nutzen. Des Weiteren können diese Daten auch auf Kollektivebene für wissenschaftliche Zwecke ausgewertet werden.

Einleitung

In der Psychiatrie liegt der methodische Fokus der Diagnostik auf der Einschätzung der bei Patienten bestehenden Symptomatik durch deren behandelnde Ärzte und Psychologen. Für diese Fremdbeurteilung werden Informationen herangezogen, die der Patient selbst im direkten Kontakt mit Ärzten und Psychologen bereitstellt, die daraufhin einen Interpretations- und Bewertungsprozess durch den jeweiligen Behandler durchlaufen. Dieser beurteilt, basierend auf seiner spezialisierten Ausbildung, die Informationen des Patienten und ordnet diesen in ein Diagnoseschema ein. Die Sicht der Patienten wird so zwar berücksichtigt, allerdings erfolgt dies unstrukturiert und ist im Nachhinein nicht mehr nachvollziehbar. Die Verwendung von Patientenselbstberichten, sog. „patient-reported outcomes“ (PROs), ermöglicht die systematische Sammlung, Auswertung und Dokumentation von Patientenangaben. Entsprechend der US-amerikanischen Federal Drug Administration (FDA) sind PROs als jeglicher Bericht über den Gesundheitszustand eines Patienten definiert, welcher direkt vom Patienten selbst kommt und dabei keinerlei Interpretation von Dritten ausgesetzt ist [1]. Ursprünglich für den Gebrauch in klinischen Studien konzipiert, wird die Entwicklung valider PRO-Fragebögen, die in einem breiten Spektrum der medizinischen Routineversorgung Anwendung finden können, durch internationale Initiativen vorangetrieben (Patient Reported Outcome Information System [PROMIS] [2, 3], The Functional Assessment of Chronic Illness Therapy [FACIT] Measurement System [4], European Organization for Research and Treatment of Cancer [EORTC] [5, 6]). Im Bereich der wissenschaftlichen Forschung werden PROs zur Evaluation von Behandlungsmodalitäten, Psychopharmakatherapien [79] oder psychologischen und psychotherapeutischen Interventionen eingesetzt [10, 11].
Ob reine Selbstbeurteilungsverfahren bei psychischen Störungen valide Daten bereitstellen, wird nach wie vor kritisch diskutiert. Sozial erwünschtes Antwortverhalten (beschönigende Angaben zu Eigenschaften oder Symptomen, die negativ eingeschätzt werden und übermäßige Darstellung positiv konnotierter Merkmale) und insbesondere krankheitsimmanente Aspekte (psychotische Zustände, Veränderungen der Stimmungslage, kognitive Einschränkungen u. a.) werden als Gründe dafür genannt, weshalb Patienten selbst nicht ausreichend verlässliche Daten liefern würden [12]. Fremdbeurteilungen alleine sind jedoch ebenso wenig in der Lage, das tatsächliche Befinden der Patienten abzubilden, da die Übereinstimmung von Ärzten und Patienten niedrig ausfallen kann [13, 14], Mediziner die Schwere von Symptomen unterschätzen [15], diese gar nicht feststellen [16] oder das Ausmaß berichteter Verbesserungen überschätzen [17]. Auch wenn es Unterschiede zwischen den Einschätzungen von Behandlern und Patienten gibt, spricht dies jedoch nicht gleich für oder gegen eine der jeweiligen Erhebungsmethoden. Vielmehr kann von der Annahme ausgegangen werden, dass Behandlerratings und PROs häufig unterschiedliche Aspekte eines gemeinsamen Konstrukts erfassen, weshalb grundsätzlich deren komplementärer Einsatz zu empfehlen ist [1719]. Dementsprechend ist in der Psychiatrie von Routine-Outcome-Monitoring (ROM) die Rede, wenn es um die regelmäßige und systematische Erhebung von PROs und klinikerbasierten Einschätzungsinstrumenten geht.
Patientenselbstberichte ermöglichen die Dokumentation von Patientenangaben
Da psychische Erkrankungen meist einen chronischen Verlauf haben und die bestmögliche Behandlung nicht nur die Heilung, sondern auch die Unterstützung eines gelungenen Umgangs mit einer bestehenden psychischen Beeinträchtigung umfasst, sind PROs eine besondere Rolle zuzuschreiben [20]. Sie rücken die Bedürfnisse und das Befinden des Patienten in den Mittelpunkt und ermöglichen die systematische Datenerfassung für individualisierte Behandlungsentscheidungen und deren Evaluation. Es ist eine breite Palette validierter Instrumente für die Erfassung von Depression [21], Angst [22], verschiedener psychopathologischer Symptome [23], Persönlichkeitseigenschaften [24] oder der gesundheitsbezogenen Lebensqualität [25] verfügbar, die neben einem Informationszugewinn für die Behandler, bei regelmäßiger Rückmeldung an die Patienten ebenso zur Verbesserung deren Gesundheitszustands und der Stärkung der therapeutischen Allianz beitragen können. Zudem kann es für Patienten motivierend sein, wenn für sie durch ihre PRO-Werte auch kleine Fortschritte nachvollziehbar sind [26], was ähnlich wie kognitiv-motivationale Techniken den Patienten informiert und dadurch das weitere Handeln beeinflusst [27]. Trotz dieser Vorteile von PROs stellen diese bisher keinen integralen Bestandteil der Routineversorgung dar. Gründe hierfür betreffen nicht nur finanzielle, zeitliche und strukturelle Aspekte, sondern auch ungenügendes Wissen über PROs und Misstrauen gegenüber der möglichen Verwendung der Daten [28].
Insbesondere die Verwendung elektronischer Systeme für die Erfassung, Auswertung und Aufbereitung von PROs (ePRO) und Klinikerratings (eROM) kann dazu beitragen, einige der oben genannten Hindernisse in der Verwendung von ROM zu überwinden. eROM kann Erhebungsabläufe optimieren, Zeit sowie Personalressourcen sparen [29, 30], die Datenqualität verbessern und die gewonnenen Daten unmittelbar für die klinische Routine nutzbar machen [31], wodurch Behandlungsabläufe standardisiert dokumentiert [27, 32, 33] und sogar verbessert werden können [34]. So ermöglicht eine kontinuierliche Erhebung durch eROM je nach Setting unterschiedliche Vorteile für Behandler und Patienten, wie beispielsweise eine zeitnahe Identifikation von Patienten, die nur wenig auf die Behandlung ansprechen und eine damit verbundene Möglichkeit, die Therapie entsprechend zu modifizieren [35].
eROMs können die Daten unmittelbar für die klinische Routine nutzbar machen
In Großbritannien wurden bereits 1998 die Health of the Nation Outcome Scales (HoNOS) entwickelt, um Therapiefortschritte bei psychisch kranken Menschen feststellen zu können [36]. In Israel beschreiben Roe et al. [37] die Implementierung von ROM in psychiatrischen Rehabilitationseinrichtungen. Bemühungen, ROM als Standardprozedere in bestehende Behandlungssettings einzugliedern, finden auf internationaler Ebene bereits in Australien, Deutschland, Großbritannien, Israel, Kanada, den Niederlanden, Neuseeland und Norwegen statt [38].

Methodik und Patienten

Bereits im Jahr 2014 wurden an der Station für Psychosomatische Medizin der Medizinischen Universität Innsbruck die ersten Vorbereitungen für die Implementierung eines eROM getroffen. Wie in Abb. 1 ersichtlich, wurde gemäß dem Replicating Effective Programs Framework [39] in 4 Phasen ein eROM in die klinische Routine implementiert.
Alle stationären Patienten, die keine kognitiven Defizite und ausreichende Deutschkenntnisse aufweisen, werden im Rahmen ihrer stationären Behandlung in das eROM-Programm aufgenommen. Entsprechend einem spezifischen Erhebungsplan (Tab. 1) füllen die Patienten an einem Tablet-PC verschiedene diagnoseunabhängige ePRO-Instrumente aus (für eine Übersicht der verwendeten Fragebögen s. Tab. 2). Um eine bestmögliche Passung in die Stationsabläufe zu gewährleisten, finden die Erhebungen vormittags zwischen 9 und 11 Uhr statt.
Tab. 1
Erhebungszeitpunkte der Selbstberichte von Patienten („patient-reported outcomes“, PROs)
Instrumente
Erhebungszeitpunkte
Aufnahme
Täglich
Wöchentlich
Entlassung
Follow-upa
B-IPQ
 
BDI-II
 
BSI
  
FEVER
 
HADS
 
NRS-SQ
 
   
NRS-SI
 
   
WHOQOL-BREF
  
a3, 6 und 12 Monate nach Entlassung
Tab. 2
Übersicht der verwendeten Selbstberichte von Patienten („patient-reported outcomes“, PROs)
PROs
Gemessene Konstrukte
BSI
Brief Symptom Inventory [23]
Psychische Belastung, allgemeine psychopathologische Symptome
WHOQOL-BREF
World Health Organization Quality Of Life Kurzform [25]
Lebensqualität
BDI-II
Beck-Depressions-Inventar II [21]
Depression
HADS
Hospital Anxiety and Depression Scale [45]
Angst und Depression
FEVER
Fragebogen zur Erfassung von Veränderungsbereitschaft [46, 47]
Veränderungsbereitschaft
B-IPQ
Brief-Illness Perception Questionnaire [48]
Krankheitswahrnehmung
NRS-SQ, NRS-SI
Numerische Ratingskalen [49]
Schlafqualität, Schmerzintensität
Neben den ePRO-Instrumenten werden ebenso ausgewählte soziodemografische (Alter, Geschlecht, Familienstand, Wohnsituation etc.) und klinische Parameter (Gewicht, Rauchverhalten, Diagnosen, Medikamente etc.) erhoben. Alle eROM-relevanten Daten werden mithilfe des Computer-Health Evaluation System (CHES) erfasst und in dieselbe Datenbank eingetragen. CHES ist speziell für die Datenerhebung, Bearbeitung und Verwaltung konzipiert und vereint so die Grundvoraussetzungen für den Einsatz von eROMs in der klinischen Routine und für wissenschaftliche Zwecke [40]. Dementsprechend können Behandler gesammelte Daten direkt an ihren Arbeitsrechnern einsehen, editieren und verwalten, Patienten bereitgestellte ePROs beantworten und wissenschaftliches Personal Datenexporte für weiterführende statistische Analysen vornehmen. Das browserbasierte eROM-System ermöglicht über personalisierte Zugangsdaten von jedem beliebigen klinikinternen Rechner den Zugriff auf die Datenbank und so auf die stets aktuellen Patientendaten. Dabei greifen zwar alle Nutzergruppen auf dieselbe Datenbank, die auf einem klinikinternen Server gespeichert ist, zu, allerdings reglementieren unterschiedliche Zugriffsberechtigungen, welche der erhobenen Daten eingesehen und welche Funktionen genutzt werden können. So unterliegt das eROM denselben strengen Sicherheitsvorkehrungen wie alle im Krankenhaus erhobenen Daten.
Bereits zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme werden die Patienten zu ihren Wünschen hinsichtlich der Kontaktaufnahme für die Follow-up-Erhebungen (3, 6 und 12 Monate nach Entlassung) befragt und deren Präferenz (E-Mail, Brief) zusammen mit den nötigen Kontaktdaten (E-Mail-Adresse, postalische Adresse) hinterlegt. Dementsprechend erhalten die Patienten bei der Entlassung einen Ausdruck mit den Zugangsdaten für die elektronisch bereitgestellten Fragebögen entweder persönlich ausgehändigt oder auf dem Postweg zugesandt. Patienten ohne privaten Internetzugang oder E‑Mail-Adresse erhalten die Fragebögen auf dem Postweg.

Ergebnisse

Von Juni 2015 bis Mai 2018 haben an der Station für Psychosomatische Medizin 300 Patienten mit einem Durchschnittsalter von 38,5 Jahren (SD: 13,6, Spanne: 18–73) im Rahmen ihres stationären Aufenthalts, am eROM teilgenommen. Der durchschnittliche Aufenthalt dauerte 35,3 Tage (SD: 27,4, Spanne: 0–177). Die größte diagnostische Gruppe bildeten mit 39,3 % Patienten mit neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen (F40–F49; Details in Tab. 3).
Tab. 3
Deskriptive Beschreibung der Stichprobe
 
Patienten
(N = 300)
Alter (in Jahren)
MW
38,5
(SD, Spanne)
(13,6, 18–73)
Geschlecht
Weiblich
76,7 %
Männlich
23,0 %
Transgender
0,3 %
Aufenthaltsdauer (in Tagen)
MW
35,3
(SD, Spanne)
(27,4, 0–177)
Hauptdiagnosen (zum Aufnahmezeitpunkt)
n (%)
Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F10–F19)
11 (3,6)
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F20–29)
2 (0,7)
Affektive Störungen (F30–39)
67 (22,3)
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F40–49)
118 (39,3)
Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (F50–59)
74 (24,6)
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60–69)
27 (9,0)
Intelligenzstörungen (F70–F79)
1 (0,3)
MW Mittelwert, SD Standardabweichungen

Ein Längsschnittverlauf am Beispiel der ersten ins eROM aufgenommenen Patientin

Am 01.06.2016 wird die erste Patientin, welche mehrere psychiatrische Diagnosen (Generalisierte Angststörung [F41.1], Zwangsgedanken und -handlungen [F42.2], Abhängigkeitssyndrom [F13.2]) aufweist und erstmalig eine stationäre psychiatrische Behandlung erhält, in das eROM aufgenommen.
Die Daten des wöchentlich ausgefüllten Beck-Depressions-Inventars II zeigen während des ersten Aufenthalts (02.06.2015–03.07.2015, siehe Abb. 2) keine relevante Verbesserung der depressiven Symptomatik. Bei der ersten Follow-up-Erhebung hat sich die wahrgenommene depressive Symptomatik nahezu halbiert, was für eine deutliche Verbesserung spricht. Anfang 2016 zeigt sich zum zweiten Follow-up-Termin eine Verschlechterung, die bei der zweiten Aufnahme am 03.11.2016 weiter zunimmt. Es folgt ein 5‑wöchiger Aufenthalt, bei dem sich die Patientin bei Entlassung am 09.12.2016 gleich belastet beschreibt wie zum Zeitpunkt des ersten Follow-ups. Ähnlich der Verschlechterung vom ersten auf das zweite Follow-up, zeigt sich wieder einer Aggravation der depressiven Symptomatik, als sich die Patientin etwa 9 Monate später, am 26.09.2017, ein drittes Mal in stationäre Behandlung begibt. Vier Wochen später berichtet sie die bisher niedrigste Ausprägung ihrer depressiven Symptomatik, die zum Zeitpunkt der Entlassung am 26.11.2017 wieder leicht zunimmt (neuerlich vergleichbar mit der Ausprägung zum ersten Follow-up-Zeitpunkt).
Am Beispiel des Verlaufs des Brief Symptom Inventory (Abb. 3), wird ersichtlich, dass die Skala Ängstlichkeit laut Angaben der Patientin während des ersten Aufenthalts zunimmt. Zum Zeitpunkt des ersten Follow-ups erreicht die Patientin den Durchschnittsbereich der gesunden Normstichprobe. Zum zweiten Aufenthalt kommt die Patientin schwer belastet und kann im Rahmen des Aufenthalts ihre Angstsymptomatik reduzieren. Den dritten Aufenthalt tritt sie weniger stark belastet als bei der vorherigen Behandlung an, profitiert jedoch auch weniger davon.
Ein ähnlicher Verlauf wird auch bei der Skala Globale Lebensqualität des WHOQOL ersichtlich (Abb. 4). Zu den Zeitpunkten der Aufnahmen beschreibt die Patientin ihre Lebensqualität jeweils mehr als zwei Standardabweichungen unter dem Durchschnitt der gesunden Normalbevölkerung. Bei jedem Aufenthalt verbessert sich jedoch die Lebensqualität deutlich, jeweils am Ende des zweiten und dritten Aufenthalts liegt diese sogar im Normbereich.
Da die hier beschriebene komplexkranke Patientin sich zum ersten Mal einer stationär psychiatrischen Behandlung unterzog, lag der Fokus während des ersten Aufenthalts hauptsächlich auf der Entwicklung eines eigenen Krankheitsverständnisses und einer Therapiemotivation. Als zusätzliche Herausforderung zeigte sich die Gestaltung des familiären Umfelds (Kinderbetreuung) für den Zeitraum der Aufnahme, was sich auch zum Zeitpunkt der ersten Entlassung widerspiegelt. Hier muss die Patientin ihren stationären Aufenthalt ungeplant abbrechen. Zum Zeitpunkt des ungeplanten Abbruchs des stationären Aufenthalts sind auf den Skalen Ängstlichkeit und Globale Lebensqualität starke Beeinträchtigungen feststellbar. Trotz der ungeplanten Entlassung kann die Patientin vom Aufenthalt profitieren, was sich in einer Verbesserung aller Skalen zum Zeitpunkt des ersten Follow-ups zeigt. Aufgrund der, in der zweiten Follow-up-Erhebung ersichtlichen Verschlechterung ist eine Wiederaufnahme indiziert. Allerdings vergehen bis zur effektiven Wiederaufnahme weitere 10 Monate. In dieser Zeit gelingt es der Patientin, Kontakt mit der Ambulanz für Psychosomatische Medizin zu halten und sich schließlich für eine neuerliche stationäre Behandlung zu entscheiden.
Das durch das eROM gewonnene Wissen um mögliche Zusammenhänge kann bei der zweiten Aufnahme von Anfang an genutzt werden. Es wird vermehrt Rücksicht auf die schwierige familiäre Situation genommen, Tagesausgänge werden vereinbart und ein flexibler Therapieplan wird erstellt. Auch das Wissen, dass die Patientin trotz Verschlechterung gegen Ende des Aufenthalts vom selbigen profitiert, kann für die Therapiemotivation im weiteren Behandlungsverlauf genutzt werden. Die Patientin selbst berichtet im Anschluss an den dritten Aufenthalt im Rahmen einer tagesklinischen Behandlung, dass sie nach jeder Entlassung noch eine deutliche Verbesserung spüre (wie bereits im ersten Follow-up ersichtlich) und somit nachhaltig von der Behandlung profitiere.
Insgesamt betrachtet zeigt sich ein Bild langsamer, aber stetiger Verbesserung der Symptomatik der Patientin in den Bereichen Depression, Ängstlichkeit und Lebensqualität.

Diskussion

In diesem Artikel präsentieren wir einen Überblick über aktuelle Bestrebungen, routinemäßige Erhebungen von ePROs in die klinische Routine der Station für Psychosomatische Medizin im Rahmen eines eROM zu implementieren. Wir beschreiben den Status quo der 2016 begonnenen eROM-Erhebung in Innsbruck und zeigen Ausschnitte aus dem Längsschnittverlauf der ersten eROM-Patientin.
Die Möglichkeit, standardisiert erhobene Daten im Längsschnitt gemeinsam mit dem jeweiligen Patienten in Einzelgesprächen oder in der Visite zu besprechen, erwies sich als sehr nützlich. Besonders bei großer Diskrepanz zwischen Selbstwahrnehmung und klinischem Eindruck stellten sich die durch das eROM erhobenen Daten als wichtige Zusatzinformation für die weitere Behandlung heraus.
Im Rahmen einer Evaluierungsstudie beschrieben sowohl Patienten, als auch Behandler eROM als eine gute Möglichkeit, um Information zum subjektiven Gesundheitszustand bereitzustellen bzw. zu erhalten und berichteten nahezu keine Beeinträchtigung der klinischen Abläufe durch die Erhebung [41].

Vergleich mit anderen ROM-Projekten

In der Literatur finden sich einige Beispiele in unterschiedlicher Form und Ausführung. Die Implementierung der HoNOS ist beispielsweise das in England verbreitetste ROM im Bereich psychischer Gesundheit [42] und wird auch bereits in Australien im Rahmen eines Rehabilitationsprogramms zur Qualitätssicherung eingesetzt [43]. Der klinische Nutzen der HoNOS liegt somit in der Dokumentation des Behandlungsfortschritts [36]. Ein ebenfalls in großem Umfang implementiertes Projekt beschreiben Roe et al. [37] aus Israel. Auch hier ist das Ziel der Implementierung die routinemäßige Erhebung von aktuellen Daten über den Verlauf und die Auswirkungen der psychiatrischen Reha-Angebote zur Verbesserung der Versorgung, um die gemeinsame Entscheidungsfindung zu erleichtern und Daten zu wissenschaftlichen Zwecken zur Verfügung zu haben.
Das Projekt hinsichtlich eines eROM für Patienten mit Angst- und affektiven Erkrankungen von De Beurs et al. [31] von der Leiden Universität weist die größte Ähnlichkeit mit der hier vorgestellten eROM-Implementierung auf. Vergleichbar mit dem Prozedere in Innsbruck, werden bei allen erfassten Patienten generische PROs erhoben. Zusätzliche füllen die Patienten bei De Beurs et al. auch krankheitsspezifische PROs aus, wodurch sich der wesentliche Vorteil ergibt, dass viel spezifischer mit den erhobenen Ergebnissen gearbeitet werden kann. Obwohl die Umsetzung dieses Vorgehens auch in Innsbruck geplant ist, gestaltet sich diese Strategie aufgrund der heterogenen Patientengruppe deutlich schwieriger. Auch in den Niederlanden werden die erhobenen Daten den jeweiligen Behandlern als Ausdruck zur Verfügung gestellt, mit dem Patienten diskutiert und für Entscheidungen den weiteren Behandlungsverlauf betreffend genutzt. Die Erhebung findet ebenfalls mit einer speziell für das ROM programmierten Software statt, welche die Daten aller PROs und weiterer diagnostischer Verfahren zusammenführt, Subskalen und Summenwerte berechnet, mit den jeweiligen Normwerten vergleicht und anschließend als Längsschnittverlauf grafisch darstellt.

Limitationen

Aufgrund der sehr heterogenen Patientengruppe war die Wahl der verwendeten PRO-Instrumente eine der größten Herausforderungen, da diese für alle Patienten beantwortbar und von Relevanz sein sollen. Allerdings spiegelt die Heterogenität der Gruppe die klinische Routine wider und erlaubt bei Aufbau einer umfassenderen Datenbank deren wissenschaftliche Analyse. Aufgrund begrenzter Ressourcen konnten außerdem noch keine multilingualen Erhebungen implementiert werden, welche jedoch zukünftig geplant sind.
Die Wahl der PRO-Instrumente ist eine der größten Herausforderungen

Lessons learned

Im Laufe der Erhebung wurden verschiedene Adjustierungen vorgenommen. Zum einen erwies sich zusätzlich zur digitalen Datenbank der Ausdruck einer Befundübersicht als hilfreich. So wurde ein Monitoring-Report mit den wichtigsten erhobenen Informationen (Name, Geburtsdatum, Diagnosen, Erhebungszeitraum, BDI-II- und HADS-Verlauf) entwickelt. Dieser wurde in ausgedruckter Form im entsprechenden Patientenakt hinterlegt. Aufgrund aktuell fehlender Ressourcen wurden die Follow-up-Erhebungen derzeit eingestellt. Eine verbesserte Strategie für die Durchführung von Follow-ups beinhaltet eine diagnosespezifische PRO-Zusammenstellung und zur Verbesserung der Teilnahmeraten die Erinnerung der Patienten an die Erhebung mittels E‑Mail, Brief oder Telefonanruf.

Ausblick

Eine kontinuierliche Erhebung von eROM/ePROs mittels eines Online-Portals bietet je nach Setting unterschiedliche Vorteile für Behandler und Patienten. Insbesondere in der klinischen Routine wird der unmittelbare Zugriff auf relevante Informationen, beispielweise hinsichtlich des Behandlungsfortschritts von Patienten, möglich [31]. Dies unterstützt neben der Behandlung auch deren Kontinuität, indem sich das medizinische Personal am Anfang einer Schicht rasch einen Überblick über den aktuellen subjektiven Gesundheitszustand der Patienten verschaffen kann [44]. Zudem profitieren Patienten, die während eines stationären Aufenthalts nur wenig auf die Behandlung ansprechen, davon, dass durch ePROs der Bedarf einer Therapieanpassung frühzeitig erkannt wird [35]. Auch außerhalb des klinischen Settings kann die Erfassung von ePROs die Patientenversorgung auf verschiedene Weise bereichern: Die elektronische Erhebung in Zeiträumen zwischen ambulanten Terminen/stationären Aufenthalten (Follow-up mittels Home-Monitoring) ermöglicht es, den Patienten entsprechend ihren Werten Informations‑/Edukationsmaterial sowie individualisierte Empfehlungen zum Selbstmanagement zu geben oder Kontaktinformationen bereitzustellen, an wen sie sich für eine bestmögliche medizinische Versorgung wenden können. Dies trägt ebenso zur umfassenderen Versorgung, wie auch zur Motivation der Patienten bei, regelmäßig Daten zu ihrem subjektiven Gesundheitszustand bereitzustellen. Aus der Kombination von stationären Erhebungen und Home-Monitoring-Daten ergibt sich zudem eine systematische Evaluation von Behandlungsverläufen, wodurch beispielsweise langfristige Auswirkungen einer therapeutischen Intervention erkennbar werden und für die weitere Behandlung von Bedeutung sein können.
Das an der Station für Psychosomatische Medizin der Medizinischen Universität Innsbruck verwendete System CHES umfasst alle technischen Anforderungen, die für die oben genannten Funktionen eines Online-Portals notwendig sind, wodurch die sukzessive Erweiterung der bestehenden eROM-Implementierung möglich ist. Zukünftig können daher ePROs nicht nur erhoben, sondern den Patienten auch übersichtlich und verständlich zugänglich gemacht werden, wobei diese nach Wunsch auch eigenen früheren Daten, definierten Vergleichsgruppen (anderen Patienten, Allgemeinbevölkerung) oder gewünschten Zielwerten gegenübergestellt werden können.

Fazit für die Praxis

  • eROM rückt die Sichtweise des Patienten in den Mittelpunkt.
  • Sie ermöglichen personalisierte Behandlungsentscheidungen.
  • Auf die mittels eROM erhobener PRO-Daten kann direkt zugegriffen werden.
  • Die Daten können zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn beitragen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

G. Rumpold und B. Holzner besitzen geistige Eigentumsrechte (IPRs) an der verwendeten Software CHES. J. Egeter, L.M. Wintner, N. Huber, B. Sperner-Unterweger und H.R. Bliem geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Alle in dieser Studie ausgewerteten Daten wurden im Rahmen der klinischen Routine erhoben. Daher war kein Ethikvotum nötig. Die Autoren bestätigen die Einhaltung der aktuellen Fassung der Deklaration von Helsinki.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Metadaten
Titel
Elektronisches Routine-Outcome-Monitoring (eROM) in Psychiatrie und klinischer Psychologie
eROM-Implementierungsbeispiel an der Universitätsklinik für Psychiatrie II in Innsbruck
verfasst von
Mag. Jonas Egeter
Lisa M. Wintner
Nathalie Huber
Gerhard Rumpold
Barbara Sperner-Unterweger
Harald R. Bliem
Bernhard Holzner
Publikationsdatum
14.08.2018
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
psychopraxis. neuropraxis / Ausgabe Sonderheft 1/2018
Print ISSN: 2197-9707
Elektronische ISSN: 2197-9715
DOI
https://doi.org/10.1007/s00739-018-0490-2

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