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Ärzte Woche

17.01.2022

Ein Rockstar auf Messers Schneide

verfasst von: Simon Almassy und Martin Krenek-Burger

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David Bowies „The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“ feiert im Juni sein 50-jähriges Bestehen. Es zählt zu den wichtigsten Pop/Rock-Alben. Der Comiczeichner Reinhard Kleist wagt sich zum runden Geburtstag an das Leben des androgynen Außerirdischen heran.

Es gibt diese Alben, bei denen man mehr Zeit damit verbrachte, über sie zu lesen, als sie zur Gänze selbst zu hören. Natürlich, man hat sie ein paarmal gehört, kennt mehrere Nummern, hat Kritiken überflogen, weiß über Hintergründe der Entstehung und Wirkung und erinnert sich an Meinungen von Freunden dazu. Aber man war oder fühlte sich zu jung, um sich mit dem schon damals alten Konzeptalbum ausführlicher zu befassen. Wer eine ähnliche Lücke vorweisen kann, dem könnte dieser Text hier als Orientierung dienen.

Von Beginn seines Schaffens an waren neue Bowie Alben rollenorientiert, das hat sich auch später nie verändert. Man erkannte stets ein Bemühen, Geschichten über mehrere Songs hinweg zu erzählen. Die Inspiration für die Geschichte über Ziggy Stardust war ein Teil der wahren Lebensgeschichte von Vince Taylor, einem britischen Rock‘n Roller aus den 60ies. Taylor wurde als Brite in Frankreich ein Star, was quasi einem anderen Stern gleichkam. Der Starruhm ging aber mit zunehmenden Wahnvorstellungen einher, die darin gipfelten, dass Taylor bei Konzerten die Ankunft von Außerirdischen prophezeite und sich selbst als Erlöser sah. So faszinierend diese reale Vorlage, so konsequent entwickelte Bowie seine Kunstfigur Ziggy Stardust und reicherte diese fantasievoll um viele Facetten an. 

Bowies androgyne Erscheinung, sein Hang zum gender-bending, die gelebte Pansexualität und seine Verwandlungswut waren sowohl Voraussetzung als auch Folgen der künstlerischen Aneignung und Transformation zu dieser Figur.* Wie es dem Helden unserer Saga, dem bisexuellen Außerirdischen, im Verlauf der Geschehnisse konkret ergehen mag, wurde im Titel des Werkes dann recht offen preisgegeben. Kann das Album auch 2022 noch überzeugen? Vorweg: es kann! Und wie!

Nach mehrmaligen Durchläufen entpuppte sich dem wiederkehrenden Hörer als größte positive Überraschung gleich zu Beginn ‚Five Years ‘: mit den sehr definierten und gut dosierten Drums und Klavierakkorden recht schlicht inszeniert, legt Bowie/Ziggy die ganze Angst, Schwere und Verzweiflung der bedrohlichen und hoffnungslos machenden Nachrichten in die Vocals. Er leiht der Menschheit seine Stimme und verdichtet die ohnehin bereits katastrophale Stimmung im Verlauf des Songs. Unheilschwanger füllt der Chor jede Pause mit den albtraumhaften Wiederholungen, dass allem Leben auf Erden nur mehr 'five years' Zeit geschenkt seien.
Bei ‘Moonage Daydream, und ‘Star‘ und ‚ Hang on to Yourself ‘ wird großer aber nicht großartiger Rock’n Roll geboten. Das Klavier und die variantenreiche Stimme erinnern etwas an den jungen Elton John, wobei dieser ein Jahr später einen Song genau diesem Album widmen wird. Durch den eher minimalistischen Stil  hinterlässt der letztgenannte der drei Songs im direkten Vergleich einen moderneren Eindruck.
Dazwischen finden sich zwei sehr melodiöse Nummern, die unterschiedliche Akzente setzen und ordentlich Theatralik mitbringen: der gefinkelt aufgebaute und schwerelos schwebende Refrain in ‚Starman ‘ vermittelt etwas mehr Kraft als die balladenhafte Aufarbeitung des weiblichen Egos unseres Helden in ‚Lady Stardust‘.
Dass man bei stilprägenden Werken nicht ausschließlich auf leuchtende Kometen stößt sondern hin und wieder nur in Staub greift wird einem bei ‚Soul Love ‘ und ‚ It Ain't Easy ‘ bewusst. Was beim einen zu lieblich und leicht schwülstig und trotz Saxophonsolo durchschnittlich bleibt, wurde beim anderen scheinbar bewusst als Reminiszenz an die Leere im All angelegt und bleibt in der Erinnerung ebendort.
Mit den abschließenden drei Nummern wird nochmals die volle Ladung Kunst und Können demonstriert und es verwundert nicht im Geringsten, dass zwei davon zu den bekanntesten Stücken der LP zählen. Auf ‚Ziggy Stardust‘ besticht das ikonische Gitarrenriff und der ständige Wechsel zwischen rockigem Drücken und Loslassen. Losgelassen wähnt man sich für einen kurzen Augenblick schwerelos im Raum. Rhythmisch etwas anders und in seiner Form noch interessanter verhält es sich bei ‚Suffragette City‘, hier pusht die Gitarre und treibt voran, im melodiösen Refrain wird einem nur die kleinstmögliche Atempause gewährt und der Gesang wird dem wummernden Takt gegen Ende als manische und schreiende Waffe mehr helfend als ausgleichend zur Seite stehen. Raffiniert choreografiert wurde Burgess ‚Clockwork Orange Zitat "wham bam, thank you, ma'am!“ dazu verwendet, die final folgenden flehenden Rufe nach der herbeigesehnten Eskalation einzuleiten. Dieses ist wohl jenes Stück, das in die Musikgalaxie am weitesten vorgedrungen war, später wurde für diesen Stil der Begriff 'Protopunk' geprägt. Zeitgenossen wie Iggy Pop, Velvet Underground, T. Rex und Konsorten bewegten sich in ähnlichen Welten, sich dabei stets gegenseitig beeinflussend.
Ein würdiges Ende findet die Science-Fiction-Mär in „Rock‘n Roll Suicide“, bei dem Big Band Sound und Orchesterinstrumentarium den glamourösen Niedergang untermalt, während Ziggy Stardust mit berührender Verzweiflung den Abgesang seines eigenen Mythos zelebriert.

Die musikalische Qualität und inhaltliche Dichte des Albums sorgten rasch für anhaltende Chart-Erfolge und goldene Auszeichnungen im westlichen Europa. Etwas weniger erfolgreich lief es hingegen in den USA, wo Glam-Rock britischer Machart damals so gar nicht einschlug sondern regelmäßig wie ein Meteroit verglühte. Nur Platz 75 in den US Billboards waren ernüchternd aber nur ein Anfang, denn stetig steigende Verkaufszahlen bescherten dem Album 26 Jahre später auch im Land der Sterne und Streifen den ihm zustehenden Starruhm mit Platinstatus.

Bowie selbst rechnete 1976 in einem Interview mit der ihm bereits überdrüssig gewordenen Kunstfigur ab: "Ich bin sogar selber auf Ziggy hereingefallen, es war kinderleicht, von dem Burschen besessen zu werden.“ Man kann darin einen frühen und später oft demonstrierten Beweis dafür sehen, dass Bowie die Fortsetzung von Traditionen ähnlich schätzte, wie der Astronaut ein Leck im Sauerstofftank seines Raumanzugs. Die programmatische Unberechenbarkeit neuer Werke war ihm immer wichtig und angesichts der Glitter-Optik der Ziggy Figur wird ihm das künstlerische Weiterziehen und die Neuerfindung trotz des Erfolges nicht allzu schwer gefallen sein. Verglichen mit der heute zumeist als unangenehm opulent empfundenen grellbunten Kleidung in Schnitt und Farbe, der vermutlich großteils im Drogennebel erdachten und umgesetzten Frisuren, der Gesichter, die als Spachtelfläche für Kajal und Make-up Experimente aller Art ihre Konturen einbüßten hat die Musik die Zeit aber recht gut und fast zur Gänze unbeschadet überdauert.
Seht also hin auf Ziggys Sterne, die meisten strahlen so hell wie eh und jeh und wollen beständig rotieren im Orbit eurer Plattendecks!

*(wer in diesem Kontext gerne das Wort ‚Chamäleon‘ vorgefunden hätte verkennt die Vielschichtigkeit der Prozesse)

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Metadaten
Titel
Ein Rockstar auf Messers Schneide
Publikationsdatum
17.01.2022
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 3/2022

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