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Ärzte Woche

05.06.2022

Die konzentrierte Kamera

verfasst von: Martin Krenek-Burger

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Christine de Grancy schoß keine klassischen Probenfotos, sie war Teil des Geschehens auf der Bühne. Die Schauspieler ließen sie gewähren, nutzten ihre Bilder, sogar für ihre Arbeit.

Das alte, von österreichischen Darstellern dominierte Burgtheater hatte schon in der Ära von Claus Peymann den Hautgout des Verzopften, den Stempel des ewig Gestrigen aufgedrückt bekommen. Dabei geschah gerade von den späten 1970er- bis in die frühen 1990er-Jahre geradezu Magisches auf der Bühne am Ring. Direktor Achim Benning (1976-1986) hatte das Ensemble verjüngt, die erste Regisseurin an die „Burg“ geholt und den tschechoslowakischen Dissidenten Vaclav Havel zum Hausautor gemacht.

Nicht zu vergessen: Er hatte 1981 das Kasino am Schwarzenbergplatz als dritte Bühne neben Burg- und Akademietheater eröffnet.

Und es war in diesem „dritten Raum“, dass – auf Vermittlung von Erika Pluhar – Christine de Grancy Benning ihre Vorstellung von Theaterfotografie darlegte. Benning erinnert sich in der Einleitung zu de Grancys Fotoband „Sturm und Spiel“ an die Arbeitsweise de Grancys: Sie „kam fast täglich auf die Proben und begann eines Tages zu photographieren, nicht verschämt von irgendeiner unauffälligen festen Position aus, sondern sich frei bewegend, auch in der Szene, und keine intime Nähe scheuend; also in einer Weise, die eigentlich hochgradig arbeitstrend und aufdringlich zu nennen wäre und die jeden Regisseur und jeden ernsthaft suchenden Schauspieler normalerweise zur Weißglut und zu feindseligen Ausbrüchen reizen und die solchermaßen arbeitende Photographin geradezu in physische Gefahr bringen müsste. Das Erwartete aber geschah nicht, sondern das Gegenteil ereignete sich: ein Wunder. Die fremde Beobachterin wurde eine willkommene und vertraute Teilnehmerin unserer Expedition in die Welt Maxim Gorkijs.“

Damals wurde gerade Maxim Gorkijs „Sommergäste“ im Kasino am Schwarzenbergplatz geprobt. An einer Stelle heißt es: „Wir sind Sommergäste in unserem Land. Wir gehören nirgendwohin. Wir tun nichts. Wir reden nur schrecklich viel.“ Viele Namen der Darsteller klingen heute noch hell: Erika Pluhar – in einer ihrer großen Rollen als Varvara Michajlovna – wurde schon genannt: „Es ging um des Menschen stete Gefährdung durch seinen Hauptfeind Opportunismus, um die niemals verstummenden und deshalb zu allen Zeiten immer wieder bedrohlich und lautstark aufkeimenden faschistoiden Tendenzen.“ Sehr heutig, sehr intensiv. Und mittendrin in diesem um Wahrhaftigkeit ringenden Starensemble – Norbert Kappen, Gertraud Jesserer, Wolfgang Gasser, Elisabeth Orth, Heinrich Schweiger, Maresa Hörbiger, Kurt Sowinetz, Inge Konradi und und und – bewegte sich eine zart gebaute Fotografin mit wilder Lockenpracht. Sie hatte und nahm sich die Zeit für etwas, das heute oft vernachlässigt wird: Sie beobachtete Menschen, ehe sie auf den Auslöser drückte, um die dichte Atmosphäre einzufangen. In den Worten Bennings riss sie „Augenblicke aus dem Strom der Zeit“. Ein Bild Erika Pluhars mit gezückter Pistole aus einer anderen Gorkij-Inszenierung ziert das Cover des Buchs „Sturm und Spiel“: „Kinder der Sonne“ aus dem Jahr 1988. Pluhar gab die Elena Nikolaevna. Der historische Hintergrund ist der Choleraaufstand von 1892. Die Textzeile zum Bild: „Verschwindet! Ich schieße.“

© Christine de Grancy

Schauspieler sandten ihr Signale

De Grancy gehört noch jener Generation an, die Fotos schießt, auch wenn ihre Herangehensweise alles andere als aggressiv ist: „Ich wartete ... wartete auf diesen bestimmten Moment, diesen einzigartigen Augenblick, in dem mir das Gegenüber – all die wunderbaren Schauspielerinnen und Schauspieler – mehr unbewusst signalisierte: Wir sind bereit.“ Zum Beispiel Elisabeth Orth und Rudolf Buczolich. Die beiden Großschauspieler fotografierte de Grancy während einer Probe zu „Hotel Ultimus“ von George Feydeau 1991 am Akademietheater, die Intensität ihres Spiels, die Spannung des Moments einfangend, sie ist den Künstlern ganz nahe, ohne ihnen zu nahe zu treten. Der aktuelle Burgtheaterdirektor Martin Kušej eröffnete das Fest zu Ehren des 80. Geburtstags de Grancys, gleichzeitig eine opulente Buchpräsentation mit Unmengen von langstieligen Rosen und Alexander Van der Bellen als Gratulanten, mit einem Zitat Oscars Wildes: „Das wahre Geheimnis der Welt liegt im Sichtbaren, nicht im Unsichtbaren.“

Obwohl „Sturm und Spiel“, die 400 Bilder umfassende Ausstellung im Theatermuseum sowie der wunderbare Begleitband keine Nostalgie-Veranstaltungen sind, wird einem beim Eintauchen in die Bildwelt de Grancys doch klar, warum gar nicht so wenige Menschen dem alten Burgtheater nachtrauern.

Literaturempfehlung. Christine de Grancy. Sturm und Spiel. Theaterphotographie. Die2 Verlag 2022, 224 Seiten, Hardcover 38,00 Euro, ISBN 978-3-9505034-1-8

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Metadaten
Titel
Die konzentrierte Kamera
Publikationsdatum
05.06.2022
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 23/2022

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