Skip to main content
Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie 3/2020

Open Access 01.10.2020 | Leitthema

Die Bedeutung der interdisziplinären Behandlung von vaskulären Anomalien im Kindesalter

verfasst von: Dr.med. Ulrike Metzger, Roman Metzger, Armin-Johannes Michel, Mircia-Aurel Ardelean, Christine Prodinger, Peter Waldenberger

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Sonderheft 3/2020

Zusammenfassung

Vaskuläre Anomalien gehören größtenteils zu den seltenen Erkrankungen. Sie werden in vaskuläre Tumoren und vaskuläre Malformationen eingeteilt.
Fallbesprechungen sind im Rahmen der Morbidity and Mortality Conferences (MMC) in den meisten Kliniken etabliert. Untersuchungen zeigen, dass die strukturierte Methodik einer Fallbesprechung die Wahrscheinlichkeit von möglichen Systemänderungen erhöht. Zudem kann durch die Interdisziplinarität die Wahrscheinlichkeit einer Umsetzung in einem Behandlungsplan erhöht werden. Die MMC sind jedoch stark darauf projiziert, dass ein Fehler oder ein drohender Fehler aufgetreten ist. Trotzdem sind die Erkenntnisse und guten Erfahrungen übertragbar. Im Bereich der seltenen Erkrankungen stehen nicht die Fehlervermeidung, sondern der Erfahrungsaustausch und die optimale Behandlung im Vordergrund. Aufgrund der Komplexität und Individualität des Einzelfalls sind Konsilien oder einzelne Face-to-face-Besprechungen häufig zu unsystematisch und die Meinungen der Experten zu divergent. Interdisziplinäre Fallkonferenzen bieten insbesondere für komplexe Fälle den Vorteil der Bündelung der Kompetenz und der Entwicklung von individuellen Behandlungskonzepten. Ziel ist die zeitnahe korrekte Diagnosestellung, die optimale und individuelle Behandlung und die umfassende Information von Patientinnen und Patienten, Eltern und Zuweiserinnen und Zuweisern. Patienten mit vaskulären Gefäßfehlbildungen und ihren Eltern sollte immer ein multidisziplinär besetztes Behandlungsteam mit Anschluss an eine überregionale Arbeitsgruppe (z. B. AIVA, die Österreichische Arbeitsgruppe für interdisziplinäre Behandlung Vaskulärer Anomalien) zur Verfügung stehen.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Vaskuläre Anomalien gehören größtenteils zu den seltenen Erkrankungen. Sie werden in vaskuläre Tumoren und vaskuläre Malformationen eingeteilt. Die Zuordnung wurde im Konsens durch die International Society for the Study of Vascular Anomalies (ISSVA) in der 2018 aktualisierten Klassifikation (Tab. 1) geregelt. Grundlage für die Zuordnung ist das Proliferationsverhalten des in der Läsion vorhandenen Endothels.
Alle vorhergehenden klinischen Einteilungen nach rein morphologischen Gesichtspunkten, wie kavernöses, kapilläres, Strawberry- oder Port-wine-stain-Hämangiom etc., sollten heutzutage obsolet sein. Die ISSVA-Klassifikation (Tab. 1) ist eine klinisch-therapeutisch orientierte Einteilung, bei der lediglich sehr seltene Anomalien, wie z. B. vereinzelt beschriebene Kombinationen von vaskulären Tumoren mit vaskulären Malformationen nicht umfänglich abgebildet werden [3].
Tab. 1
Klassifikation der International Society for the Study of Vascular Anomalies (ISSVA; Übersetzung und Adaptation nach [3], aktualisierte Version 2018)
Vaskuläre Anomalien
Vaskuläre Tumoren
Vaskuläre Malformationen
Benigne
Lokal aggressiv oder borderline
Maligne
Einfach
Kombinierta
Von großen benennbaren Gefäßen
Assoziiert mit
anderen Anomalien
Kapilläre Malformationen
Lymphatische Malformationen
Venöse Malformationen
Arteriovenöse Malformationenb
Arteriovenöse Fistelnb
CVM, CLM,
LVM, CLVM
CAVMb
CLAVMb
andere
Betreffen Lymphgefäße, Venen, Arterien
Anomalien nach Ursprung, Verlauf, Anzahl, Länge, Durchmesser, Klappen, Verbindungen (AVF), Verbleib (embryonaler Gefäße)
z. B. Klippel-Trénaunay‑, Parkes-Weber‑, CLOVES-, Proteus‑, Maffucci-Syndrom
CVM kapillär-venöse Malformation, CLM kapillär-lymphatische Malformation, LVM lymphatisch-venöse Malformation, CLVM kapillär-lymphatisch-venöse Malformation, CAVM kapillär-arteriovenöse Malformation, CLAVM kapillär-lymphatisch-arteriovenöse Malformation, CLOVES „congenital lipomatous overgrowth, vascular malformations, epidermal nevi, skeletal/scoliosis and spinal abnormalities“ (kongenitaler lipomatöser Überwuchs, vaskuläre Fehlbildungen, epidermale Naevi, skeletale und spinale Anomalien)
aDefiniert als zwei oder mehr vaskuläre Malformationen in einer Läsion
bHigh-flow-Läsionen
Der häufigste Gefäßtumor ist das (infantile) Hämangiom. Dieses zeigt ein typisches Verhalten mit einer postpartal anfänglich raschen Größenzunahme, einer kurzzeitigen Stagnation und spontaner Regression. Die Malformationen dagegen zeichnen sich bis auf wenige Ausnahmen durch eine langsame Größenprogredienz aus. Demzufolge ist die Differenzialdiagnose allein durch Anamnese und Klinik in den meisten Fällen möglich.
In etwa 10 % der Anomalien sind für die Zuordnung radiologische Untersuchungen wie Ultraschall oder Magnetresonanztomografie (MRT) notwendig. Bei bislang 40 im Orphanet hinterlegten vaskulären Anomalieformen sind einige Läsionen nur erschwert einzuordnen. Zwar beschreibt Paula North umfänglich die histopathologischen Befunde der verschiedenen Anomalien [7], jedoch gibt es keine Indikation für die standardisierte Entnahme von Gewebe. Ferner sind nur wenige Institute in der Lage, diese Bestimmung zuverlässig durchzuführen.
Die häufigste vaskuläre Anomalie ist das infantile Hämangiom (2–3 % aller Neugeborenen). Bei diesem benignen vaskulären Tumor besteht in über 80 % der Fälle keine Notwendigkeit zur Therapie, da sie spontan ausheilen. Bei den sog. komplizierten Hämangiomen stehen inzwischen gut etablierte Therapieformen (Kryotherapie, LASER-Behandlung, Propranololtherapie und gegebenenfalls chirurgische Resektion) zur Verfügung. Das Ziel in der Behandlung von infantilen Hämangiomen ist eine korrekte Diagnose und die frühestmögliche Indikationsstellung bei Therapienotwendigkeit, um Komplikationen in der Wachstumsphase zu verhindern.
Vaskuläre Malformationen sind angeborene Gefäßfehlbildungen, die jedoch häufig erst im Laufe des Wachstums klinisch in Erscheinung treten. Die Häufigkeit liegt bei ungefähr 1,5 % der Bevölkerung. Heilende Therapieverfahren stehen meist nicht zur Verfügung. Das Ziel ist hier die Linderung der Symptome. Die Indikationsstellung zur Therapie ist aufgrund des fehlenden heilenden Charakters eher zurückhaltend zu stellen. Hierfür benötigt es umfangreiche Erfahrung in den möglichen Therapieformen wie auch in den anatomischen und physiologischen Verhältnissen. Da es sich um eine benigne, jedoch lebenslange Erkrankung handelt, steht der möglichst ungestörte Erhalt der physiologischen Funktionen im Vordergrund. Hier besteht die Herausforderung in der korrekten Diagnose- und Indikationsstellung sowie in der Notwendigkeit der lebenslangen supportiven Begleitung im Sinn eines Case-Managements.
Die im Folgenden dargestellten Fälle zeigen die Komplexität und Herausforderung in der Behandlung von vaskulären Anomalien.

Venöse Malformationen

Im März 2017 wurde ein 15-jähriges Mädchen mit Schwellung an distalem Oberschenkel und Kniebereich rechts seit etwa 2,5 Jahren vorstellig. Es besteht teilweise eine Bewegungseinschränkung. Im Alter von 16 Jahren Durchführung einer diagnostischen Arthroskopie, hierbei zeigte sich eine ausgeprägte Gonarthrose und Synovialitis. Eine Synovektomie und die Koagulation der intraartikulären Anteile der venösen Malformation wurden durchgeführt (Abb. 1).
Im Verlauf wurde bei Schwellung und Schmerzen die Diagnose eines Aneurysmas der Vena poplitea gestellt. Dieses wurde im Alter von 16 Jahren gefäßchirurgisch bei 4 cm breiter Basis zur V. poplitea gerafft. Aktuelle Therapie: Die Patientin erhält zweimal wöchentlich Muskelaufbautraining und Lymphdrainagen, zusätzlich sind seit dem 15. Lebensjahr 11 Embolisationsbehandlungen erfolgt.
Venöse Malformationen sind die häufigste Form der kongenitalen Gefäßfehlbildungen (etwa 60 %) und können sich prinzipiell am gesamten Körper manifestieren. Die venösen Malformationen sind sog. Low-flow-Malformationen, also Gefäßfehlbildungen mit langsamem Fluss. Häufig ist die sog. extratrunkuläre Form, bei der sich die irregulär wachsenden Gefäße in Haut, Muskulatur, Sehnen, Nerven etc. befinden. Im Gegensatz hierzu besteht bei der trunkulären Form eine sog. Marginalvene, die das venöse Gefäßkonvolut lateralseitig z. B. am Ober- oder Unterschenkel (Typ Weber I–IV) begleitet. Hier ist zwingend zu prüfen, ob eine Aplasie des tiefen Venensystems vorliegt. Bei einer Aplasie erfolgt der gesamte venöse Abfluss der Extremität über die Marginalvene, sodass eine Entfernung obsolet ist. Die häufigsten Beschwerden sind Schmerzen aufgrund einer Thrombenbildung in den varikösen Gefäßen. Bei umfangreicher Thrombosierung kann eine Verbrauchskoagulopathie entstehen [5].
Die meisten venösen Malformationen können mittels Anamnese und klinischer Untersuchung diagnostiziert werden. Wichtig ist die Farbdopplersonografie, die bei der Unterscheidung von rein venösen und gemischten vaskulären bzw. lymphatischen Malformationen hilft. Eine Magnetresonanz(MR)-Angiographie sollte bei ausgedehnten Befunden und bei Verdacht auf assoziierte Anomalien angeschlossen werden [6].
Wichtig ist bei allen vaskulären Malformationen die frühzeitige multidisziplinäre Betreuung, um die Auswirkungen und Einschränkungen dieser lebenslangen Erkrankungen optimal zu beeinflussen. Die Therapie ist symptomorientiert durchzuführen, dabei steht die konservative Therapie mit lokaler Kompressionsbehandlung und Physiotherapie, wie z. B. Lymphdrainage, im Vordergrund. Begleitend braucht es nicht selten eine Schmerztherapie und auch Psychotherapie. Wichtig ist, dass diese Patientinnen und Patienten aufgrund der Schmerzen häufig inaktiv sind. Dies ist kontraproduktiv und dem sollte mit gezieltem Training entgegengewirkt werden. Bei häufigen Thrombosen und daraus resultierenden Beschwerden ist die Notwendigkeit einer Antikoagulation zu diskutieren. Eindeutige Empfehlungen zur Antikoagulation bei Kindern bis zum 15. Lebensjahr existieren nicht [1].
Bei Vorhandensein einer Marginalvene mit Nachweis eines suffizienten tiefen Systems besteht die Möglichkeit der chirurgischen Resektion. Aufgrund der zu erwartenden Komplikationen (Wundheilungsstörungen, Narbenbildung, Blutung etc.) ist die Indikation jedoch streng zu stellen. Für die chirurgische Resektion spielen insbesondere zunehmende Schmerzen und Funktionseinschränkungen eine Rolle. Zusätzliche Therapieoptionen sind die Injektion sklerosierender Substanzen und die perkutane Laserapplikation. Die Sklerosierungstherapie sollte aufgrund der möglichen Komplikationen auf darauf spezialisierte Zentren beschränkt sein. Es stehen unterschiedliche Sklerosierungsmaterialien zur Verfügung, die nach Form, Lokalisation und Ausdehnung der vaskulären Malformation ausgewählt werden. Wichtig sind hier therapiebegleitende Maßnahmen wie Kompression, eventuell Antikoagulation, Hydratation, Analgetika sowie gegebenenfalls Antibiotika oder Kortikosteroide in Regionen wie dem Auge, der Trachea etc. [5, 6].

Lymphatische Malformationen

Postpartal vorgestellter Junge mit großer lymphatischer Malformation zervikoaxillär beidseits, der oberen Extremitäten, des Mediastinums, der Lungen und der Milz. Die erste Behandlung wurde in der dritten Lebenswoche als chirurgische Resektion im Bereich der linken Axilla durchgeführt. Nach 5 Monaten traten ein lokales Rezidiv und eine obstruktive Atmung auf, in der durchgeführten Bronchoskopie zeigte sich eine Tracheakompression mit einem Restlumen von 30 % (Abb. 2).
Erstmalig im 6. Lebensmonat erfolgte die Punktion mit Instillation von OK-432, 2 Wochen postinterventionell sistierte die respiratorische Symptomatik. Seither wurde die Malformation 9‑mal punktiert und OK-432 appliziert. Aktuell zeigt sich der Junge im Alter von 15 Jahren mit gutem funktionellem Befund und ohne respiratorische Symptomatik bei verbleibenden mediastinalen Restbefunden.
Bei den Fehlbildungen des lymphatischen Gefäßsystems ist das klinische Erscheinungsbild sehr unterschiedlich: 90 % der lymphatischen Malformationen (LM) werden vor dem 2. Lebensjahr diagnostiziert. Manche werden bereits pränatal in der Ultraschalluntersuchung auffällig. Auf der anderen Seite kann aufgrund fehlender Symptome in manchen Fällen eine Diagnose erst in der Pubertät oder im Erwachsenenalter gestellt werden. Die häufigste Lokalisation ist mit über 50 % der Kopf-Hals-Bereich, in etwa 40 % der Fälle sind Rumpf und Extremitäten betroffen. Intrathorakale bzw. intraabdominelle LM treten in etwa 10 % auf.
Durch die anatomische Lage der Lymphgefäße wachsen die LM im Gegensatz zu anderen vaskulären Malformationen häufig infiltrierend. Komplikationen entstehen durch lokal verdrängendes Wachstum und Kompression benachbarter Organe, z. B. Trachea, Auge oder Ösophagus. Bei den LM treten häufig Einblutungen oder eine Infektion auf, die eine rasche Größenänderung bedingen.
Auch bei diesen Malformationen ist eine ausführliche Anamnese und klinische Untersuchung entscheidend. Bei den bildgebenden Verfahren steht die Duplexsonografie (prä- und postnatal) im Vordergrund. Wichtig ist insbesondere bei unklarer Ausdehnung die MRT. Computertomographie und Lymphangiographie sind speziellen Fragestellungen überlassen.
Die meisten LM sind nicht kurativ behandelbar. Ziel der Behandlung ist daher die Verkleinerung der Läsion und damit die Linderung von Symptomen. Alle Therapieverfahren haben ihre spezifische Anwendung und stehen gleichberechtigt nebeneinander. Eine Behandlung ist in erster Linie symptomorientiert durchzuführen, dabei ist auch eine konservative Therapie mit physikalischer Therapie wie z. B. Lymphdrainage mit zu bedenken. Aufgrund der zum Teil entstellenden Ausdehnung sollte frühzeitig eine psychische Unterstützung von Eltern und Kind in Erwägung gezogen werden.
Die LASER-Therapie wird fast ausschließlich mittels Nd:YAG-Laser und vor allem bei kleinzystischen lymphatischen Malformationen durchgeführt. Mögliche Applikationsarten sind perkutan, interstitiell oder auch endoskopisch (Glasfaser). Häufig treten vorübergehende Vaskulitiden, Schwellungen und sterile Entzündungen auf. Dies ist insbesondere in sensiblen Arealen zu bedenken. Die Anwendung von Picibanil (OK 432) hat sich in der Therapie der großzystischen Läsionen etabliert. Die Lösung aus lyophilisierten, mit Penicillin G inkubierten, niedrig virulenten A‑Streptokokken (Streptococcus pyogenes) induziert eine lokale Entzündungsreaktion. Diese führt zu einer erhöhten Durchlässigkeit der Endothelmembran und der lymphatische Abstrom wird beschleunigt. Postoperativ treten häufig Fieber (bis 40 °C), Erytheme, Parästhesien und Schwellungen auf. Aufgrund der möglichen Nebenwirkungen sollte nach dem Eingriff immer eine stationäre Überwachung erfolgen. Großzystische LM sind häufig mehrkammerig. Dadurch kann eine Rückbildung oft erst nach mehreren Sitzungen erreicht werden. Wichtig ist hier, auf die Regenerationszeit von mindestens 4 Wochen zu achten.
Die chirurgische Resektion lymphatischer Malformationen steht lediglich bei gut zugänglichen und gut abgrenzbaren Befunden im Vordergrund. Hierdurch kann in manchen Fällen eine Heilung erzielt werden. Gelegentlich ist die chirurgische Reduktion sehr ausgedehnter, organkompromittierender Befunde erforderlich.
Das Medikament Sirolimus ist ein mTOR-Inhibitor, das bereits seit Längerem bei der Immunsuppression nach Nierentransplantation verwendet wird. Die Ansprechrate von LM ist bei korrekter Indikationsstellung hoch (>90 %). Ein Vorteil dieser Therapie ist die orale Applikation. Eine exakte Einnahme ist Voraussetzung für die Wirksamkeit. Problematisch sind die bisher fehlenden Richtlinien bei „off-label use“. Eine genaue Therapiedauer, Dosierung und Toxizität sind nicht bekannt. Bei Absetzen von Sirolimus ist mit einem Wiederauftreten zu rechnen, daher ist vermutlich bei Entscheidung für die Therapie eine lebenslange Einnahme notwendig.

Arteriovenöse Malformationen

Der Junge wurde uns erstmalig im Alter von 3 Jahren vorgestellt. Anamnestisch wurde im ersten Lebensjahr ein Hämangiom des linken Oberlids diagnostiziert. Zu diesem Zeitpunkt wurde eine freie Lidachse ohne Amblyopierisiko festgestellt. Klinisch schwoll der Befund beim Schreien an. Es wurde die Indikationsstellung zur Propranololtherapie bei Verdacht auf Hämangiom gestellt. Im Verlauf wurde ein klinischer Rückgang der Schwellung und eine bessere Lidöffnung gesehen. Ab dem 2. Lebensjahr fiel ein Astigmatismus links auf. Mit 2,5 Jahren wurde extern ein MRT bei stagnierendem Befund und Absetzen des Propranolols empfohlen. Zunächst erfolgte jedoch bei leichter Größenprogredienz eine LASER-Behandlung mittels Farbstoff LASER im Alter von 3 Jahren. Bei dem Eingriff wurde eine Pulsation des Oberlids beobachte, im Alter von 3 Jahren MR-Angiographie mit Diagnose einer High-flow-Malformation und im Verlauf dann zunehmende Schwellung mit Reduktion des Lidspalts. Zu diesem Zeitpunkt erfolgte die Diagnosestellung einer arteriovenösen Malformation (AVM) und Zuweisung nach Salzburg (Abb. 3).
Mit 3,5 Jahren Erstvorstellung mit ausgedehnter AVM im Bereich der Frontalregion links sowie des Oberlids links, die Orbita ist beteiligt. Ophthalmologisch wird der Verdacht auf Amblyopie geäußert und die stundenweise Okklusion empfohlen. Die Okklusion wird durch den Jungen nicht toleriert. Aufgrund der Intoleranz der Okklusion wurde die Indikation zur Resektion des die Pupille bedeckenden Teils der Malformation gestellt. Im Alter von 4 Jahren erstmals Auftreten von Spontanblutungen. Mit 4 Jahren erfolgte die Teilresektion der AVM und Ptosis-Operation (Levatorvorverlagerung mit Teilresektion von Muskel und Haut). Histologisch werden dilatierte Gefäßstrukturen mit flacher Endothelauskleidung gesehen. Postoperativ wird ein Visus links von 40 % diagnostiziert. Im weiteren klinischen Verlauf wieder zunehmende Schwellung im Sinn eines Progress. Im Alter von 7 Jahren Auftreten rezidivierender Blutungen. Daher erfolgte mit 7,5 Jahren die perkutane Embolisation. Postinterventionell trat im Bereich des Oberlids eine Ulzeration auf. Aktuell besteht eine narbige Verheilung mit rezidivierender Ulzeration.
Kombinierte AVM sind seltener als die bereits beschriebenen Malformationen. Sie sind angeboren. Auffällig ist, dass die AVM durch hormonelle Veränderungen, aber auch durch Traumen und Verletzungen Wachstumsschübe zeigen können. Die Geschlechterverteilung ist gleich. Etwa die Hälfte der AVM Patienten ist bei Geburt bereits bekannt, die übrigen manifestieren sich im weiteren Lebensverlauf. Lokalisation und Ausprägung sind unterschiedlich. Neben den klassischen Regionen wie Kopf/Hals, Stamm und Extremitäten können auch alle parenchymatösen Organe und Hohlorgane betroffen sein.
Wie in dem Fallbeispiel ersichtlich, sind sowohl die Anamnese wie auch der klinische Befund (pulsierende Läsion) bereits hinweisend. Eine Duplexsonographie sowie die MRT mit MR-Angiographie sind wesentliche diagnostische Hilfsmittel.
Aufgrund der oben beschriebenen Eigenschaften richtet sich die Therapie ausschließlich nach den vorhandenen Symptomen. Jegliche Intervention kann auch einen Wachstumsschub auslösen. Eine chirurgische Entfernung kann lediglich bei kleinen und umschriebenen Läsionen erfolgen. Therapie der ersten Wahl ist die transarterielle Embolisation durch Gewebekleber, wobei das Ziel die Okklusion des sog. Nidus ist (dort gehen die Arterien ohne zwischengeschaltetes Kapillarbett direkt in die Venen über). Vereinzelt sind kombiniert transarterielle und perkutane Eingriffe notwendig. Als Komplikation kann eine Herzinsuffizienz auftreten, sodass in einigen Fällen eine Behandlung bereits postpartal erforderlich ist. Ähnlich den lymphovaskulären Malformationen sind vollständige Remissionen insbesondere bei größeren Malformationen nur selten zu erwarten. Daher besteht die Notwendigkeit einer konsequenten Nachsorge und Kontrolle. Bei einem Teil der AVM, insbesondere bei Läsionen mit dominanter kapillärer Komponente, ist lediglich eine symptomatische Therapie möglich. Die Laserbehandlung spielt aufgrund der hohen Flussgeschwindigkeiten nur eine untergeordnete Rolle. Neueste Therapieansätze fokussieren sich auf die medikamentöse Beeinflussung der Angioneogenese (Sirolimus etc.).

Zusammenfassung

Fallbesprechungen sind im Rahmen der Morbidity and Mortality Conferences (MMC) in den meisten Kliniken etabliert. Untersuchungen von Giesbrecht et al. zu den MMC zeigen, dass die strukturierte Methodik einer Fallbesprechung die Wahrscheinlichkeit von möglichen Systemänderungen erhöht. Zudem kann durch die Interdisziplinarität die Wahrscheinlichkeit einer Umsetzung in einem Behandlungsplan erhöht werden [2]. Die MMC sind stark darauf projiziert, dass ein Fehler oder ein drohender Fehler aufgetreten ist. Trotzdem sind die Erkenntnisse und guten Erfahrungen übertragbar.
Im Bereich der seltenen Erkrankungen stehen nicht die Fehlervermeidung, sondern der Erfahrungsaustausch und die optimale Behandlung im Vordergrund. Aufgrund der Komplexität und Individualität des Einzelfalls sind Konsilien oder einzelne Face-to-face-Besprechungen häufig zu unsystematisch und die Meinung der Experten zu divergent. Interdisziplinäre Fallkonferenzen bieten insbesondere für komplexe Fälle den Vorteil der Bündelung der Kompetenz und der Entwicklung von individuellen Behandlungskonzepten [4]. Aufgrund dieser Tatsachen erfolgte im Jahr 2015 die Gründung des Boards für Vaskuläre Anomalien am Uniklinikum Salzburg auf Initiative der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie gemeinsam mit dem Fachbereich Interventionelle Radiologie. Das Board legt interdisziplinär und individuell den Behandlungsplan jedes Kindes mit vaskulärer Anomalie protokolliert fest.
Mit dem protokollierten Ergebnis kann der jeweilige Case Manager das durch das Expertengremium festgelegte Konzept umsetzen und mit den Patienten und Eltern besprechen.
Ziel dabei ist die zeitnahe korrekte Diagnosestellung, die optimale und individuelle Behandlung und die umfassende Information von Patienten, Eltern und Zuweisern. Patienten mit vaskulären Gefäßfehlbildungen und ihren Eltern sollte immer ein multidisziplinär besetztes Behandlungsteam mit Anschluss an eine überregionale Arbeitsgruppe (z. B. Österreichische Arbeitsgruppe für interdisziplinäre Behandlung Vaskulärer Anomalien, AIVA) zur Verfügung stehen. Nur so lassen sich individuelle Betreuung und Anwendung modernster Therapieoptionen auf einen Punkt bringen. Dies ist insbesondere für die Gefäßmalformationen essenziell, aufgrund des bisher fehlenden kausalen Therapieansatzes und der möglichen umfänglichen Einschränkungen dieser lebenslangen Erkrankungen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

U. Metzger, R. Metzger, A.-J. Michel, M.-A. Ardelean, C. Prodinger und P. Waldenberger geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Albisetti M (2002) Antikoagulation im Kindesalter. Paediatrica 13(5):34–37 Albisetti M (2002) Antikoagulation im Kindesalter. Paediatrica 13(5):34–37
3.
Zurück zum Zitat International Society for the Study of Vascular Anomalies (2018) ISSVA classification for vascular anomalies. https://www.issva.org/classification (Approved at the 20th ISSVA Workshop, Melbourne, April 2014, last revision May 2018). Zugegriffen: 29.02.2020 International Society for the Study of Vascular Anomalies (2018) ISSVA classification for vascular anomalies. https://​www.​issva.​org/​classification (Approved at the 20th ISSVA Workshop, Melbourne, April 2014, last revision May 2018). Zugegriffen: 29.02.2020
5.
Zurück zum Zitat Michel AJ, Metzger U, Ardelean MA, Waldenberger P, Metzger R (2015) Vaskuläre Anomalien und Gefäßtumore im Kindesalter. Arzt Kind 6:28–33 Michel AJ, Metzger U, Ardelean MA, Waldenberger P, Metzger R (2015) Vaskuläre Anomalien und Gefäßtumore im Kindesalter. Arzt Kind 6:28–33
Metadaten
Titel
Die Bedeutung der interdisziplinären Behandlung von vaskulären Anomalien im Kindesalter
verfasst von
Dr.med. Ulrike Metzger
Roman Metzger
Armin-Johannes Michel
Mircia-Aurel Ardelean
Christine Prodinger
Peter Waldenberger
Publikationsdatum
01.10.2020
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie / Ausgabe Sonderheft 3/2020
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-020-00773-6

Weitere Artikel der Sonderheft 3/2020

Pädiatrie & Pädologie 3/2020 Zur Ausgabe

Round Table Diskussion

Round Table Kinderchirurgie