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Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis 3/2021

Open Access 14.04.2021 | Neurologie

Das funktionelle Querschnittsyndrom – ein Fallbericht

verfasst von: Dr. Thomas Haider, Ph.D., Dr. Lisbeth Notter

Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis | Ausgabe 3/2021

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Zusammenfassung

In der Akutsituation im Schockraum stellen neurologische Ausfälle immer eine diagnostische und in weiterer Folge auch therapeutische Herausforderung dar. Das sogenannte funktionelle Querschnittsyndrom, also sensomotorische Defizite bei vermuteter Rückenmarkläsion ohne organisches Korrelat, wird selten angetroffen und auch in der Literatur sind nur vereinzelte Fallberichte zu finden. Der Fall eines jungen Patienten mit einem funktionellen Querschnittsyndrom nach Trauma wird in diesem Artikel vorgestellt.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Einleitung

Das funktionelle oder psychogene Querschnittsyndrom beschreibt das klinische Bild eines neurologischen Defizits in unterschiedlicher Ausprägungsform im Rahmen einer suszipierten Rückenmarkläsion bei fehlendem organischem Korrelat. Insbesondere in der Akutphase stellt dieser Symptomkomplex eine diagnostische Herausforderung dar. Dementsprechend soll dieser Fallbericht den klinischen Verlauf in der Erstversorgung veranschaulichen.

Fallbericht

Wir berichten über den Fall eines 19-jährigen Patienten, der in Notarztbegleitung über den unfallchirurgischen Schockraum unserer Abteilung eingeliefert wurde. Bei der Übergabe durch den Notarzt war der Patient bei stabilen Vitalparametern wach, ansprechbar und allseits orientiert. Er wurde liegend mit angelegtem Stiffneck eingebracht und bot einen kompletten sensomotorischen Querschnitt mit Kraftgrad 0 sämtlicher Kennmuskeln der beiden unteren Extremitäten und herabgesetztem Hautgefühl ab Höhe des Bauchnabels. Der Patient berichtete darüber, dass er soeben von einer anderen Person niedergestoßen worden und schließlich auf den Rücken gefallen sei. Außerdem berichtete der Patient darüber, dass ein ähnlicher Vorfall mit vergleichbarer Symptomatik vor wenigen Wochen stattgefunden habe. In der damaligen klinischen Abklärung in einem anderen Krankenhaus sei keine Verletzung detektiert worden. Im Verlauf sei es zu einer spontanen Remission der Symptomatik gekommen, woraufhin der Patient wieder entlassen wurde. Zu diesem Vorfall lag uns beim Eintreffen des Patienten keine Dokumentation vor.
An der psychiatrischen Abteilung unseres Krankenhauses war der Patient aufgrund einer rezidivierend depressiven Störung mit ausgeprägter Insomnie (F33.0) erstmalig etwa ein Jahr zuvor in Behandlung gewesen, die jedoch vom Patienten nach wenigen Monaten abgebrochen worden war. Die damals vorgeschriebene psychiatrische medikamentöse Therapie bestand aus Sertralin 50 mg 1‑0-0‑0 und Trazodon 150 mg 0‑0-0-2/3, welche der Patient selbstständig etwa sechs Monate zuvor abgesetzt habe. Auf direkte Nachfrage gab der Patient zwar mäßigen Alkoholkonsum an, wirkte aber vom klinischen Eindruck her nicht alkoholisiert. Auch Drogenkonsum wurde auf direkte Nachfrage verneint. Nach vollständiger Entkleidung des Patienten konnten in der klinischen Untersuchung keine äußerlichen Verletzungszeichen gefunden werden. Der Patient klagte über starke Schmerzen im Bereich der gesamten Wirbelsäule insbesondere auch über der gesamten Lendenwirbelsäule. Während sich im Bereich der beiden oberen Extremitäten keine sensomotorischen Defizite feststellen ließen, fand sich eine vollständige Plegie der beiden unteren Extremitäten. Das Hautgefühl wurde ab Bauchnabelhöhe als herabgesetzt angegeben. Der Patient gab außerdem Harndrang an, ein Versuch des Harnlassens in die bereitgestellte Harnflasche verlief jedoch frustran und die Anlage eines Harnkatheters wurde verweigert. Ein Priapismus lag nicht vor. Trotz der nun beschriebenen vorliegenden Symptomatik wirkte der Patient insgesamt desinteressiert und teilnahmslos.
Eindrückliche vollständige Anästhesie der beiden unteren Extremitäten
Nun erfolgte eine nativradiologische Abklärung der gesamten Wirbelsäule in zwei Ebenen ohne Hinweis auf eine traumatische Läsion. Im Anschluss wurde eine Computertomographie der gesamten Wirbelsäule ebenfalls ohne pathologisches Ergebnis durchgeführt. Nach Abnahme des Stiffnecks fanden sich weiterhin keine äußerlichen Verletzungszeichen bei freier Beweglichkeit der Halswirbelsäule. Im Anschluss erfolgte die neurologische Vorstellung.
Dabei wurde die Anästhesie für Schmerz, Berührung und Temperatur im Bereich beider unteren Extremitäten bei noch geringfügig erhaltener Sensibilität im Genitalbereich und die Paraplegie der beiden unteren Extremitäten bestätigt. Sämtliche Reflexe der beiden unteren Extremitäten stellten sich, abseits des negativen Babinski-Reflexes, seitengleich mittellebhaft dar. Als sensibles Niveau wurde Th11/12 festgelegt.
Das in weiterer Folge eingeholte psychiatrische Konsil ergab die Verdachtsdiagnose einer psychogenen Plegie (F44.4) unter Vorbehalt der noch ausstehenden weiterführenden bildgebenden Abklärung. Die im Anschluss durchgeführte Magnetresonanztomographie der gesamten Wirbelsäule ergab ebenfalls keinen pathologischen Befund (siehe Abb. 1). Nach Mitteilung des unauffälligen Befundes erhob sich der Patient von der Liege, tätigte problemlos einige Schritte im Ambulanzbereich und gab eine vollständige Remission seiner Symptome inklusive Wiedererlangen der willkürlichen Miktion an. Der Patient wurde schließlich, nach Vereinbarung eines Kontrolltermins an der psychiatrischen Ambulanz nach Rücksprache mit den behandelnden Psychiatern, entlassen. Rückblickend betrachtet war insbesondere die vollständige Anästhesie der beiden unteren Extremitäten auch unter Prüfung mit spitzer Nadel im Bereich der Fußsohle und der Harnverhalt bei beträchtlich gefüllter Harnblase (Abb. 1b) besonders eindrücklich.

Fazit für die Praxis

  • Das funktionelle Querschnittsyndrom ist eine Ausschlussdiagnose und stellt somit eine diagnostische Herausforderung in der Akutphase dar.
  • Neu aufgetretene neurologische Defizite nach Unfällen jeglicher Art müssen ohne Ausnahme vollständig abgeklärt werden.
  • Im Rahmen eines funktionellen Querschnittsyndroms können neurologische Defizite unterschiedlichster Ausprägung vorhanden sein. Wie unser Fallbeispiel zeigt, sind auch eine objektivierbare Anästhesie und Harnverhalt möglich.
  • Neben der gründlichen klinischen Untersuchung und neurologischen Begutachtung ist eine akute bildgebende Diagnostik entsprechend der klinischen Präsentation gefordert.
  • Auch im Verdachtsfall eines funktionellen Querschnittsyndroms, zum Beispiel bei Patientinnen und Patienten, die sich im Rahmen mehrmaliger Vorstellungen mit vergleichbarer Symptomatik präsentieren, ist das Vorliegen von organischen Ursachen (i.e. Verletzungen im Bereich der Wirbelsäule und des Rückenmarks) zweifelsfrei auszuschließen.
  • Psychiatrische Betreuung und Klärung der sozialen Hintergründe sollten bereits nach erstmaligem Auftreten eines funktionellen Querschnittsyndroms initiiert werden, sofern dies nicht bereits im Vorfeld erfolgt ist.
  • Im Falle von unauffälliger Bildgebung kann die Kontaktaufnahme mit Angehörigen und/oder betreuendem medizinischen Personal dazu beitragen, die Verdachtsdiagnose des funktionellen Querschnittsyndroms zu erhärten.
  • Bei anhaltender Symptomatik können somatosensible evozierte Potenziale (SEP) und motorisch evozierte Potenziale (MEP) zur Differenzierung von organischen und psychogenen Querschnittsyndromen behilflich sein.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

T. Haider und L. Notter geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Metadaten
Titel
Das funktionelle Querschnittsyndrom – ein Fallbericht
verfasst von
Dr. Thomas Haider, Ph.D.
Dr. Lisbeth Notter
Publikationsdatum
14.04.2021
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
psychopraxis. neuropraxis / Ausgabe 3/2021
Print ISSN: 2197-9707
Elektronische ISSN: 2197-9715
DOI
https://doi.org/10.1007/s00739-021-00715-2

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