„Das Leben eines Arztes abseits gewohnter Routinen“: So beschreibt Flavio Del Ponte sein Buch „Dissonanzen“. Der Schweizer Chirurg, der in Kriegs- und Krisengebieten arbeitete, hat das autobiographische Werk nach Beginn des Ukraine-Kriegs 2022 verfasst – als Plädoyer für den Frieden. Wir haben ihn in Wien getroffen.
Unfallopfer Nik Mohammed Ahmadi, ein Patient des Kundus Trauma Centers. Über die Arbeit in dieser Klinik von „Ärzte ohne Grenzen“ lesen Sie auch auf der nächsten Seite ein Interview mit einem Unfallchirurgen.
Ärzte ohne Grenzen/Nava Jamshidi
Ärzte Woche: Wie kamen Sie zur humanitären Medizin?
Flavio Del Ponte: Während des Studiums stand ich vor der Entscheidung: Chirurgie oder Psychiatrie? 1966 verbrachte ich ein Auslandssemester in Wien, lernte bei Asperger und Frankl, und merkte, dass Psychiatrie nicht mein Weg ist –, auch wenn ich mich heute wieder intensiv damit beschäftige. 1975 hatte ich mit 32 Jahren die Chance, in einem von Albert Schweitzer gegründeten Spital in Gabun zu arbeiten. Schweitzer war ein Vorbild für mich, und so begann meine erste humanitäre Mission.
Ärzte Woche: Wie ging es weiter?
Del Ponte: Rund 20 Jahre widmete ich mich der Traumatologie, auch als Ausbilder für Kriegschirurgen, dann führte mich meine zunehmende Frustration im Feld in die Politik. Kofi Annan, damals Untergeneralsekretär der UNO, holte mich 1994 als Berater in die Abteilung für Friedenssicherungseinsätze nach New York. Dort widmete ich mich Themen wie Aids, Landminen oder Posttraumatischen Belastungsstörungen. Danach war ich 13 Jahre Chefarzt der Humanitären Hilfe der Schweiz.
Ärzte Woche: Als Kriegschirurg waren Sie für das Rote Kreuz in Ländern wie Kambodscha, Vietnam, Irak, Afghanistan oder Ruanda im Einsatz. In Ihrem Buch schildern Sie unvorstellbares Leid und schonen Ihre Leserinnen und Leser nicht.
Del Ponte: Es gibt Dinge, die man nicht hinnehmen darf. Wer humanitäre Medizin praktiziert, steht dem Leid näher als die meisten anderen Menschen. Ich will dieses Leid vermitteln und mit der Macht des Wortes bewegen. Ich bin überzeugt: Würden alle Menschen selbst in die Augen verstummter oder sterbender Kinder blicken, gäbe es ein Umdenken – wie nach dem zweiten Weltkrieg, als die Welt sagte: Nie wieder Krieg. Inzwischen hat sich die Gewalt leider zurück geschlichen. Ich allein kann keinen Frieden schaffen, wir Mediziner sollten alle unseren Teil leisten. Das ist eine der zwei Hauptbotschaften meines Buches.
Flavio Del Ponte wurde 1944 in der Schweiz geboren. Nach dem Medizinstudium und einer Spezialisierung in allgemeiner Chirurgie, Traumatologie und Kriegschirurgie arbeitete er viele Jahre in Konfliktgebieten als Ausbilder und UN-Berater. Seine Schwester Carla Del Ponte war von 1999 bis 2007 Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und den Völkermord in Ruanda.
privat
Ärzte Woche: Und die andere?
Del Ponte: Humanitäre Medizin, besonders die Kriegschirurgie, ist kaum bekannt. Es gibt noch keine umfassende Darstellung der Methoden und Praktiken im Feld. Das muss sich ändern, woran ich mit einer Gruppe von Kollegen arbeite. Humanitäre Medizin soll an Universitäten gelehrt und als Ausbildungsweg angeboten werden – sie wird dringender gebraucht denn je.
Ärzte Woche: Welche Herausforderungen sind Ihnen aus Ihren Missionen besonders in Erinnerung?
Del Ponte: In Afghanistan waren wir mehrmals an der Grenze der physischen Kraft, wenn wir bis zu 14 Stunden am Stück operieren mussten. Die Verletzten wären ohne uns gestorben. Sehr belastend ist stets die Triage. Das Hauptprinzip eines Kriegsspitals ist, möglichst viele Leben in möglichst kurzer Zeit zu retten. Man kann nicht fünf Stunden an einem Patienten verbringen, wenn in dieser Zeit acht andere gerettet werden könnten. Das ist fürchterlich.
Ärzte Woche: Wie unterscheidet sich Kriegschirurgie von „normaler“ Chirurgie?
Del Ponte: Sie basiert auf der normalen Chirurgie, ihre Methoden sind aber ganz anders. Würde man im Feld die üblichen Protokolle anwenden, würden die Wunden nicht heilen. Kriegsverletzungen unterscheiden sich stark von Verletzungen beispielsweise nach einem Autounfall. Geschosse, die mit Temperaturen von bis zu 800 Grad in den Körper eindringen, verbrennen alles auf ihrem Weg. Splitter dringen in alle Richtungen und sind zum Teil so klein, dass man sie nicht auf Röntgenbildern sieht. Jede Wunde wird als infiziert betrachtet und mit Antibiotika behandelt, die Haut über ihr darf nicht geschlossen werden.
Ärzte Woche: Waren Sie je in Gefahr?
Del Ponte : Ja, mehrmals. Einmal wurden wir beschossen und flüchteten. Der Kollege neben mir wurde getroffen. Oft dachte ich: Das ist jetzt das Ende, aber du hast diesen Weg gewählt, also beklage dich nicht. Weil ich dennoch überlebte, fühle ich mich verpflichtet, für Frieden einzutreten.
Ärzte Woche: Hatten Sie je Zweifel an Ihrer Arbeit?
Del Ponte: Wer hat die nicht? Ich kannte einen Chirurgen, der eines Tages sagte, seine Arbeit im Spital tauge nichts. Er nahm ein Gewehr und ging zum Kämpfen in den Wald. Mir halfen wohl meine Veranlagung, meine Erziehung und mein soziales Umfeld. Auch in schwierigsten Situationen existiert zudem Menschlichkeit. Wenn man Leidenden hilft, entsteht Nähe – zu den Kollegen, aber auch zu den Patienten. In Afghanistan hätte ich mit meinen Patienten Frieden schaffen können. Selbst wenn sie gegnerischen Fraktionen angehörten, waren sie nach ein paar Tagen im Spital keine Feinde mehr. Das habe ich auch in anderen Ländern erlebt.
Ärzte Woche: Wie haben Sie die Belastungen verarbeitet?
Del Ponte: Einsätze des Roten Kreuzes in Kriegsgebieten dauern für Chirurgen meist drei Monate. Das ist die Zeit, in der man gute Arbeit leisten kann, ohne verrückt zu werden. Danach braucht man eine Pause. Ich flog in die Schweiz, zu Familie und Freunden, und war nach einigen Wochen oder Monaten wieder fit, konnte mit neuer Energie und absoluter Überzeugung weitermachen. Ich wusste: Man wartet auf mich. Jahrelang ging das gut. Erst als ich schon lange in Pension war, kam alles hoch. Auslöser war der 24. Februar 2022, der Beginn des Krieges in der Ukraine. Plötzlich konnte ich nicht mehr schlafen, alle Erinnerungen kehrten zurück. Ich geriet in eine Krise, holte mir psychologische Hilfe. Mein Buch ist aus dieser Dynamik heraus entstanden.
Ärzte Woche: Im Buch fragen Sie: „Ist noch Zeit für Hoffnung?“ Wie beantworten Sie das?
Del Ponte: Wir müssen hoffen ( Anm.: Del Ponte betont das Müssen ), das sage ich ohne Zögern. Ein Kind fragte mich einmal, wann sein amputierter Arm nachwächst. Da habe ich ein Gelübde abgelegt: Ich werde dich nie im Stich lassen.
Flavio Del Ponte Dissonanzen. Das abenteuerliche Leben eines Chirurgen aus Leidenschaft Westend Verlag 2024, 368 S., Hardcover 28,00 Euro ISBN 9783864894534
Westend
„Genau das wollte ich machen“
Der Chirurg Olivier Bezard (40) verbrachte zwei Monate in Kundus. Im dortigen Trauma Center leitete er das europäische Team der Organisation.
Ärzte Woche: Was können Sie über Ihren Einsatz berichten?
Olivier Bezard: Ich war bereits zweimal in Haiti und einmal im Tschad für Ärzte ohne Grenzen tätig. Afghanistan hat mir am besten gefallen. Das Krankenhaus in Kundus ist etabliert, gut ausgestattet und bietet einem Chirurgen ein interessantes Behandlungsspektrum. Ich führte Eingriffe durch, für die den einheimischen Chirurgen noch die Erfahrung fehlt, etwa das Einsetzen von Marknägeln oder Platten bei Knochenbrüchen.
Ärzte Woche: Mit welchen Verletzungen hatten Sie am häufigsten zu tun?
Bezard : Da es keine offenen Kampfhandlungen mehr gibt, behandelten wir vor allem Verletzungen durch Verkehrsunfälle oder aus dem privaten Bereich. Schussverletzungen kamen vereinzelt vor, Handverletzungen durch Anti-Personenminen überraschend häufig. Ein großes Problem ist häusliche Gewalt gegen Frauen.
Ärzte Woche: Über Afghanistan hört man meist Negatives. Wie war es, dort zu arbeiten?
Bezard: Ich war positiv überrascht. Die Afghanen sind herzliche Menschen, die unter der Lage im Land leiden – die Frauen sowieso, aber auch die Männer wünschen sich für ihre Kinder ein besseres Leben. Die wenigsten Menschen, so habe ich es zumindest erlebt, identifizieren sich mit den Taliban. Zu diesen hatten wir nur am Flughafen direkten Kontakt. Wir wussten aber, dass sie undercover ins Spital kommen, um zu prüfen, ob ausländische Mitarbeiter feiern oder Alkohol trinken.
„Die Afghanen sind herzliche Menschen, die unter der Lage im Land leiden.“ Dr. Olivier Bezard Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie
Ärzte ohne Grenzen
Ärzte Woche: Ein wichtiger Teil der Arbeit von Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan ist die Ausbildung einheimischer Kräfte. Wie läuft diese ab?
Bezard: In Kundus gibt es Austauschprogramme mit öffentlichen Spitälern, bei denen etwa der Umgang mit Ultraschallgeräten oder Unterdruckverbänden gelehrt wird. Für die Schulungen entsendet Ärzte ohne Grenzen Einsatzmitarbeiter und -mitarbeiterinnen mit entsprechenden Spezialkenntnissen.
Ärzte Woche: Hatten Sie je Angst?
Bezard: Das ist die erste Frage, die ich nach Einsätzen stets gestellt bekomme. Klar ist man anfangs von dem geprägt, was man über das Land weiß. Ich habe mich aber bei keiner Mission schlecht aufgehoben gefühlt, im Gegenteil: Ärzte ohne Grenzen befolgt extrem strikte Sicherheitsprotokolle. Für mich waren alle Einsätze großartig, genau das wollte ich immer machen.
Ich kann Kolleginnen und Kollegen mit Abenteuersinn, die über den Tellerrand schauen, Verantwortung übernehmen und Medizin wie früher ausüben wollen, den Einsatz für Ärzte ohne Grenzen nur ans Herz legen. Man wächst persönlich mit einer Geschwindigkeit, die in Österreich undenkbar ist.
Mehr Informationen über Einsätze sowie Spendenmöglichkeiten online unter www.aerzte-ohne-grenzen.at