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Ärzte Woche

21.06.2021 | Chirurgie

Bionik

Die Geier warten schon

verfasst von: Martin Krenek-Burger

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Oskar Aszmann und sein Team sind bei der bionischen Extremitätenrekonstruktion weltweit führend. Ihre Expertise haben die Mediziner auf das Tierreich ausgedehnt und einem Bartgeier Bein und Leben gerettet. Der Name der Technik: Osseointegration.

Der Regen hat aufgehört. Die Dreitausender im Osttiroler Debanttal sind nebelverhangen. Nur einige von Blaualgen geschwärzte Felsbänder und Lawinenrinnen, die bis zu den Almen hinunterreichen, sind zu sehen. Hier steht Geier-Experte Michael Knollseisen mit zwei Beinen fest auf der Erde und einem in der Hand. Letzteres gehörte einmal einem Schaf. Als grausige Belustigung präsentiert der Südtiroler den Gästen des Nationalparks Hohe Tauern den „Hax’n“, bevor er in einem Sack verschwindet, in dem der Rest des soeben aufgetauten Tieres steckt. Die spitzen Ausbuchtungen stammen von den Hufen des Schafs. Knollseisen bringt zwei ausgewilderten jungen Bartgeiern ihr Mittagessen.

Bartgeier, die größten flugtüchtigen Vögel Europas mit einer Flügelspannweite bis zu 2,6 Metern, sind die Vorzeigetiere der Naturschützer – und in vielerlei Hinsicht bedroht. Fünf Brutpaare gibt es im Nationalpark (Stand 2019). Zwar sind die Aasfresser grundsätzlich gut gewappnet für ihre raue Umwelt, doch bei dieser geringen Zahl an Tieren sind auch einzelne Ausfälle von Tieren, etwa wegen Verletzungen, eine ernst zu nehmende Bedrohung.

Das Smartphone von Prof. Dr. Oskar Aszmann läutet. Sarah Hochgeschurz von der Veterinärmedizinischen Universität Wien hat ein Anliegen. Es geht um Bartgeier „Mia“, der in der Eulen- und Greifvogelstation in Haringsee (NÖ) untergebracht ist. Mia war Aszmanns Patientin. Der Mediziner von der Universitätsklinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie gilt bei der bionischen Extremitätenrekonstruktion als weltweit führend. Mia hatte sich so schwer an einem Fuß verletzt, dass dieser amputiert werden musste. „Füße sind für einen Geier lebenswichtige Instrumente, nicht nur im Landeanflug oder zum Gehen, sondern auch beim Halten der Nahrung muss der Fuß unterschiedlichen Belastungen Stand halten“, sagt die Forscherin.

Aszmann war gleich interessiert: „Nach einer klinischen Visite in Haringsee war klar, dass der seltene Vogel nicht lange in der aktuellen Situation überleben würde. Wir konzipierten und fertigten ein eigenes Knochenimplantat an, welches bei der OP am Stumpf eingesetzt wird.“

Diese neue Technik heißt Osseointegration und wurde von der Arbeitsgruppe Aszmann vor Kurzem erstmals bei einem Patienten nach Armverlust angewendet – bei einem Vogel war das zuvor noch nie gemacht worden. Bei der Osseointegration werden externe Prothesenteile direkt mit einem Knochenanker verbunden, um eine solide Skelettbefestigung zu gewährleisten. Aszmann dazu: „Dieses Konzept bietet ein hohes Maß an Verkörperung, da die Osseoperzeption ein direktes intuitives Feedback liefert, das eine natürliche Verwendung der Extremität beim Gehen und Füttern ermöglicht. Nun ist uns erstmals eine derartige bionische Rekonstruktion einer Extremität eines Geiers gelungen.“

Lebensrettende Rekonstruktion


Bei großen Vögeln wie Geiern führt der Verlust von Gliedmaßen zum Verlust der Gehfähigkeit und schließlich zum Tod durch Unterernährung. Ein prothetischer Ersatz kann das Glied ersetzen, jedoch können konventionelle Prothesenschäfte bei gefiederten Gliedmaßen und der extremen Belastung im täglichen Gebrauch bei Tieren bisher nicht verwendet werden.

Die Operation bei dem Bartgeier wurde gemeinsam mit Rickard Branemark vom Center for Osseointegration Research, (San Francisco, am Zentrum für Biomedizinische Forschung an der MedUni Wien – Leiter: Bruno Podesser) erfolgreich durchgeführt. Die Rehabilitation und prothetische Versorgung erfolgte wieder in Haringsee. „Schon nach drei Wochen erfolgten die ersten Gehversuche und nach sechs Wochen die vollständige Belastung. Heute kann der Bartgeier wieder mit zwei Füßen und als erster ‚bionischer Vogel‘ landen und gehen“, sagt Aszmann, der vor allem durch seine bahnbrechenden Arbeiten zu bionischen Händen weltweite Bekanntheit erlangte.

Im Tal der Geier


Insbesondere der Fall von Patrick Mayrhofer sorgte 2011 auch in internationalen Medien für großes Aufsehen: Der junge Elektriker war 2008 beim Arbeiten in den Stromkreis geraten und hatte schwerste Verletzungen vor allem an der linken Hand erlitt, die funktionslos blieb. Er entschied sich daraufhin, sich die Hand amputieren zu lassen und – weltweit erstmalig – einige Wochen später durch eine bionische Prothese ersetzen zu lassen.

Zurück im Tal der Geier in Rauris. 1986 wurden hier die ersten Bartgeier ausgewildert. Von insgesamt 300 nachgezüchteten, freigelassenen und seither geborenen Bartgeiern in den Alpen lebten drei Jahrzehnte später noch 200 Tiere. Gemeinsam mit den Gänsegeiern, die nur Sommergäste sind, nützen die Bartgeier Fallwild und verendete Schafe, Ziegen und Kühe auf den Almen als Nahrung. Entsorgung à la nature, und gratis. Von den Tierkadavern bleibt nichts übrig.

Doch die Geier warten schon. Der Tod lauert überall, manchmal in Form eines vergessenen Touristen-Smartphones. Geier schlucken fast alles, auch liegen gelassene Mobiltelefone, ihre scharfen Magensäfte lösen die giftigen Inhaltsstoffe auf, die Tiere sterben.

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Metadaten
Titel
Bionik
Die Geier warten schon
Publikationsdatum
21.06.2021
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 25/2021

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