Die Betreuung von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen kann für Eltern herausfordernd und belastend sein. Eltern sind auf ein adäquates Unterstützungsnetzwerk angewiesen, welches auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist. Ziel dieser Arbeit ist es, das Betreuungserleben der Eltern und ihre Bedürfnisse hinsichtlich der Unterstützungsangebote zu erfassen und mögliche Lösungen zu erläutern.
Methode
Zur Datenerhebung wurden halbstrukturierte Interviews mit fünf Müttern und einem Elternpaar von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen durchgeführt (n = 7). Die Stichprobe wurde mit Unterstützung einer Gatekeeperin aus dem Verein Autismus Bern gewonnen. Es erfolgte eine inhaltlich-strukturierende Inhaltsanalyse nach Kuckartz und Rädiker (2022).
Ergebnisse
Die Betreuung von Kindern mit ASS ist fordernd und verändert das Leben der ganzen Familie. Zentrale Bedürfnisse der Eltern sind (1) fachgerechte Informationen über Autismus, (2) eine zentrale Ansprechperson mit Übernahme der individuellen Fallführung, (3) Zeit für sich selbst, (4) Fachpersonen mit spezifischem Wissen über Autismus.
Diskussion
Der Ausbau oder die Umstrukturierung von Unterstützungsangeboten ist relevant. Neue Versorgungsmodelle mit Gewährleistung einer fachkompetenten, zentralen Anlaufstelle sind unabdingbar. Advanced Practice Nurses können Fallführungen von Familien ganzheitlich übernehmen und familienzentriert arbeiten, um die Bedürfnisse der Eltern weitgehend abzudecken.
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Im Rahmen dieser Forschungsarbeit (Masterarbeit) wurden die Sichtweisen und Erfahrungen von Eltern von Kindern mit ASS in Bezug auf vorhandene Unterstützungsangebote erhoben. Darüber hinaus sollten die Bedürfnisse der Eltern hinsichtlich der bestehenden Angebote aufgezeigt sowie mögliche Ansätze für deren Weiterentwicklung diskutiert werden.
Aus dieser Zielsetzung ergeben sich folgende Forschungsfragen:
Wie erleben betreuende Angehörige von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung die Betreuung im Alltag?
Mit welchen Herausforderungen und Hindernissen sind betreuende Angehörige bei der Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten konfrontiert?
Welche Bedürfnisse und Wünsche haben betreuende Angehörige von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen im Hinblick auf Unterstützungsangebote?
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Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurde ein qualitativ-deskriptives Forschungsdesign gewählt. Es wurden fünf Einzelinterviews sowie ein Paarinterview durchgeführt. Die Rekrutierung der Teilnehmenden erfolgte über eine Gelegenheitsstichprobe mit vorab definierten Einschlusskriterien (Tab. 1).
Tab. 1
Einschlusskriterien und Begründung
Einschlusskriterien
Begründung
Betreuende Angehörige (Eltern), urteilsfähig, volljährige Person (ab 18 Jahren nach ZGB Art 14 b)
Die Diagnose Autismus-Spektrum wurde ärztlich diagnostiziert
Exklusion von anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen [2]
Die Kinder besuchen die obligatorische Schule oder eine Sonderschule [3] oder sind in einer beruflichen Grundbildung [4]. Sie sind im Alter von 4–17 Jahren
Einschluss möglicher Schnittstellen mit Fachpersonal aus der Pädagogik/beruflichen Grundbildung, Exklusion Erwachsene im Autismus-Spektrum
Deutschsprechend
Umgehung einer Sprachbarriere
Wohnhaft im Kanton Bern
Kantonale Unterschiede in Betreuungsangeboten Fokus auf Kanton Bern, Zusammenarbeit mit Verein Autismus Bern
Unterschriebene Einverständniserklärung zur Teilnahme
Grundvoraussetzung für die Forschung mit Menschen [5]
Die Rekrutierung der Teilnehmenden erfolgte mit Unterstützung einer Gatekeeperin [6], die durch ihre Tätigkeit im Verein Autismus Bern Zugang zu potenziellen Stichprobenmitgliedern – Eltern von Kindern mit ASS – hatte. Ein privater Bezug zu den Teilnehmenden bestand nicht. Die Entscheidung, ob Eltern als Einzelperson oder als Paar am Interview teilnehmen wollten, wurde ihnen selbst überlassen, wodurch eine erzwungene Exklusion eines Elternteils vermieden werden konnte. Die Ausschreibung zur Studienteilnahme erschien im digitalen Newsletter des Vereins Autismus Bern in den Kalenderwochen 18 und 39 des Jahres 2022 und wurde per E‑Mail an die Abonnent:innen verschickt. Zusätzlich wurde ein Elterntreffen des Vereins besucht, um die Studie den Anwesenden persönlich vorzustellen. Insgesamt konnten sieben Teilnehmende (n = 7) rekrutiert werden. Abb. 1 gibt eine Übersicht über den Rekrutierungsprozess.
Zur Datenerhebung wurden leitfadengestützte, halbstrukturierte Interviews durchgeführt. Der Interviewleitfaden wurde entlang thematischer Bereiche aufgebaut, die jeweils mit einer einleitend offenen Frage eröffnet wurden (z. B. „Wie erleben Sie die Betreuung des Kindes?“). Grundlage für die thematische Struktur bildeten einschlägige Literatur sowie die Erfahrungen der erstgutachtenden Person und der Gatekeeperin. Ziel war es, den Befragten möglichst viel offenen Raum zu geben, um fremdgesteuerte Strukturierungen und theoretische Vorannahmen weitgehend zu vermeiden [7].
Durchführung der Interviews
Abhängig davon, ob sich die Teilnehmenden als Einzelpersonen oder als Paar beteiligten, wurden Einzel- oder Paarinterviews durchgeführt.
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Für beide Interviewformen wurde derselbe Leitfaden verwendet, wobei beim Paarinterview lediglich grammatikalische Anpassungen vorgenommen wurden. Ein Pretest fand nicht statt. Während der Erhebungen wurde der Leitfaden im Themenbereich Unterstützungsangebote leicht angepasst, um die Gewichtung besser auszubalancieren.
Die durchschnittliche Dauer der Interviews betrug 59 min. Alle Gespräche wurden in Schweizer Mundart geführt. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich über Oktober und November 2022. Die Interviews fanden überwiegend in privaten Räumlichkeiten auf Wunsch der Teilnehmenden statt; ein Interview wurde in einer Klinik durchgeführt.
Datenanalyse
Zur Auswertung der Daten wurde eine qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt, die von Kuckartz und Rädiker [8] als „systematische und methodisch kontrollierte wissenschaftliche Analyse von Texten, Bildern, Filmen und anderen Inhalten von Kommunikation“ definiert wird. Im Zentrum der Analyse stehen Kategorien, mit deren Hilfe das für die Forschungsfragen relevante Material codiert wird [8].
Ethische Überlegungen
Bei der vorliegenden Qualifikationsarbeit (Masterarbeit) handelt es sich nicht um ein Forschungsvorhaben im Sinne des Humanforschungsgesetzes (HFG)1. Die Arbeit fällt daher nicht in den Geltungsbereich des HFG und bedarf folglich keiner Bewilligung durch die kantonale Ethikkommission. Alle befragten Personen waren erwachsen und nahmen freiwillig an der Studie teil. Sie wurden umfassend über Ziel und Zweck, Nutzen, Dauer sowie die verwendeten Methoden informiert und gaben ihre Einwilligung zur Teilnahme. Den Teilnehmenden stand es frei, jederzeit und ohne Angabe von Gründen sowie ohne Nachteile aus der Studie auszutreten.
Beschreibung der Stichprobe
Alle sieben Teilnehmenden sind leibliche Eltern von Kindern mit ASS. Die fünf Einzelinterviews wurden jeweils mit den Müttern geführt, beim Paarinterview nahmen Mutter und Vater gemeinsam teil. Drei Mütter leben verheiratet mit dem Kindsvater zusammen, eine befindet sich in Trennung, zwei sind vom leiblichen Vater getrennt und wohnen mit einem neuen Partner bzw. Ehemann zusammen. Die Kinder sind zwischen zwölf und 16 Jahre alt (drei Mädchen, vier Jungen). Das Elternpaar aus dem Paarinterview hat zwei betroffene Söhne. Bei allen Kindern wurde eine ASS-Diagnose gestellt. Drei Jungen und zwei Mädchen besuchen die obligatorische Volksschule. Ein Junge befindet sich in einer beruflichen Grundausbildung mit Berufsmaturität, ein Mädchen war zum Zeitpunkt des Interviews in einer Klinik und besuchte die Schule vorübergehend nicht. Ihre Mutter wurde dennoch in die Stichprobe aufgenommen, da der Klinikaufenthalt zeitlich begrenzt ist und ein anschließender Schulbesuch vorgesehen war. Die Diagnosen wurden zwischen 2018 und 2021 gestellt.
Erleben der Betreuung
Um ein vertieftes Verständnis für die Betreuung von Kindern im Autismus-Spektrum zu gewinnen, wurde in den Interviews nach dem Alltagserleben der Eltern gefragt. Ziel war es, zu erfassen, wie Eltern die Betreuung ihrer Kinder wahrnehmen, welche Faktoren diese beeinflussen und welche Herausforderungen sich daraus ergeben. Die Ergebnisse zeigen, dass die Betreuung in verschiedenen Lebensbereichen überwiegend als fordernd und anstrengend erlebt wird. Eine Mutter fasste dies wie folgt zusammen: „Sehr anstrengend (…) ehrlich gesagt, weil sie [Tochter] ist sehr intensiv. Also das Zusammensein mit ihr ist sehr intensiv und sehr fordernd […].“
Drei von sieben Teilnehmenden berichteten, durch die ständige Präsenz und Aufmerksamkeit gegenüber dem Kind sowie durch den eigenen Anspruch, „gute Eltern“ zu sein, an physische oder psychische Grenzen zu stossen. Eine Mutter schilderte: „Ich habe das letzte Jahr schon auch gemerkt, dass ich es vielleicht ein bisschen übertrieben habe. Ich habe gesundheitliche Probleme bekommen und jetzt gerade so ein bisschen die volle Ladung […].“
Als zentrale Herausforderungen nannten die Eltern zudem die Unselbstständigkeit ihrer Kinder, den daraus resultierenden hohen Unterstützungsbedarf im Alltag sowie ein starkes Bedürfnis nach Rückzug und nach klarer Struktur. Diese Ausprägungen des Autismus wurden in den Interviews wiederholt hervorgehoben und als besondere Belastung in der Betreuung beschrieben.
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Soziale Situation
Die Kinder benötigen feste Routinen, Regeln und klar strukturierte Abläufe. Dies spiegelt sich in den beschriebenen, stark organisierten Alltagsstrukturen der Familien wider. Spontane Planänderungen oder unvorhersehbare Situationen führen häufig zu Überforderung, Stress und emotionalen Reaktionen wie Aggressivität. Die Einhaltung des Tagesplans und das Reagieren auf Abweichungen verlangen von den Eltern ständige Präsenz und Aufmerksamkeit, wodurch wenig Raum für soziale Kontakte oder spontane Verabredungen bleibt.
In fünf von sechs Interviews wurde der eingeschränkte Sozialkontakt als besonders belastend hervorgehoben. Eine Mutter formulierte dies wie folgt: „Sozialkontakt, da leide ich schon darunter. Hätte ich gerne mehr.“ In zwei Gesprächen wurde zudem von Gefühlen der Einsamkeit berichtet, die vor allem dann entstehen, wenn ein unterstützendes Umfeld fehlt: „[…] man ist doch recht, irgendwie trotzdem alleine. Weil gerade, wenn man eben nicht so das Umfeld hat […].“
Aushalten der Situation und Hilflosigkeit
Vier Teilnehmende berichteten von einer starken Belastung durch Sorgen und das Gefühl von Hilflosigkeit im Umgang mit der herausfordernden Lebenssituation. Beschrieben wurden Situationen, in denen sich die Kinder vollständig zurückzogen (Shut-downs) und kaum ansprechbar waren. Solche Episoden treten häufig in Folge von überfordernden, unvorhersehbaren oder stressreichen Alltagssituationen wie dem Schulbesuch auf. Darüber hinaus berichteten Eltern von tieftraurigen Gefühlen und depressiven Verstimmungen ihrer Kinder; in zwei Fällen wurden auch suizidale Gedanken thematisiert.
Der Zugang zu den Kindern ist während solcher Shut-downs stark eingeschränkt, was von den Eltern als besonders belastend erlebt wurde. Eine Mutter schilderte dies eindrücklich: „[…] also Shut-downs aushalten ist ganz, ganz schwierig. So wenn man nicht mehr hinkommt […] ein halber Teenager, welcher einfach zu Boden geht wie ein Käfer und eine Stunde lang schreit und man kann ihn nicht mehr beruhigen. Das ist schwierig für mich gewesen, dass er in den Emotionen so weit fällt und ich ihm nicht helfen konnte […].“
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Erleichterung durch die Diagnose
Einige Eltern äußerten im Zusammenhang mit der Betreuung Selbstzweifel an ihrer Elternrolle und stellten sich Fragen wie: „Was habe ich in der Erziehung falsch gemacht? Liegt es an mir, dass mein Kind solche Symptome zeigt? Wieso braucht mein Kind noch immer so viel Unterstützung? Bin ich nicht fähig, ein guter Elternteil zu sein?“
Gleichzeitig berichtete die Mehrheit der Befragten von einer deutlichen Entlastung durch die Diagnosestellung. Mit der Diagnose konnten Last und Druck reduziert werden; das Verhalten des Kindes wurde besser nachvollziehbar, und die Eltern fühlten sich in der Lage, ihr Umfeld fundierter zu informieren und Anpassungen einzufordern. Eine Mutter fasste dies wie folgt zusammen: „[…] ich denke, durch die Diagnose weiß man auch mehr, wie argumentieren. Man kann das den anderen vielleicht besser klar machen, aus einer anderen Sichtweise […] Also für uns hat die Diagnose sehr viel Erleichterung gebracht, muss ich wirklich sagen. Das Kind hat einen Namen […].“
Gesellschaft und Autismus
Mehrere Eltern berichteten, in der Öffentlichkeit mit Kritik oder abwertenden Blicken konfrontiert zu werden. Wiederholt thematisiert wurde dabei die „Unsichtbarkeit“ des Autismus-Spektrums. Da in der Gesellschaft häufig ein stereotypes Bild von Menschen mit Autismus vorherrscht, stossen Eltern oft auf Unverständnis gegenüber dem Verhalten ihrer Kinder. Dieses mangelnde Verständnis und die geringe Toleranz im Alltag wurden von den Befragten als verletzend erlebt, wie eine Mutter betonte: „[…] also in der Öffentlichkeit […] Ich habe das Gefühl, dort steck ich ein. Das ist nachher wirklich (…) ja, zum Teil ist es echt hart […].“
Alle Teilnehmenden hoben daher die Bedeutung gesellschaftlicher Aufklärung hervor, mit dem Ziel, mehr Verständnis, Rücksichtnahme und Anerkennung für die Situation von Familien mit Kindern im Autismus-Spektrum zu schaffen.
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Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
A. Mettler, M. Kocher Hirt und M. Bernet geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine klinischen Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Hinweis des Verlags
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