Der vorliegende Artikel beschreibt den Behandlungsansatz in der Tagesklinik für Traumafolgestörungen im Krankenhaus der Elisabethinen und gibt einen differenzierten Einblick in die Praxis als Anregung für weitere Forschungsfragen. Einleitend wird die Klassifikation und Definition von Traumafolgestörungen kurz zusammengefasst. Es folgt eine Darstellung der Ziele und Angebote der Tagesklinik. Der Behandlungsansatz der Tagesklinik basiert auf der klassischen Traumabehandlung entlang der drei Phasen Stabilisierung – Konfrontation – Integration und auf der Theorie der strukturellen Dissoziation. Diese Theorie der strukturellen Dissoziation wird im zweiten Teil des Artikels erläutert. Bei Patient:innen mit posttraumatischer Belastungsstörung, komplexer posttraumatischer Belastungsstörung oder dissoziativen Störungen ist die therapeutische Arbeit mit dissoziierten Persönlichkeitszuständen1 und Phobien zentral, wie im dritten Teil gezeigt wird. Im abschließenden vierten Teil wird ein Zwischenresümee aus den bisherigen Erfahrungen des klinischen Alltags in der Tagesklinik gezogen.
Teil 1 Einleitung
Klassifikation und Definition
Traumatische Ereignisse können vielfältige psychische und somatische Reaktionen auslösen, die in der Fachliteratur als Traumafolgestörungen bezeichnet werden. Eine dieser Störungen ist die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die sich durch Symptome wie Intrusionen, Vermeidungsverhalten und Hyperarousal äußert. Im Jahr 2019 verabschiedete die WHO mit dem ICD-11 (International Classification of Diseases 11th Revision) eine Reihe signifikanter Modifikationen im Bereich der Traumafolgestörungen, was in der Behandlung von Trauma und Dissoziation zu substanziellen Verbesserungen führte: Das Kapitel „Spezifisch belastungsbezogene Störungen (Kap. 6B4)“ wurde neu eingeführt. Neben der etablierten Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wurden die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS) und die anhaltende Trauerstörung als eigenständige Störungsbilder ergänzt.
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Patienten:innen mit kPTBS zeigen zusätzlich zu den PTBS-Symptomen signifikante Affektregulationsstörungen, Veränderungen in der Selbstwahrnehmung und Schwierigkeiten im Aufbau tragfähiger sozialer Beziehungen (Gysi 2025). Darüber hinaus weisen die Patient:innen häufig dissoziative Symptome und ein breites Spektrum an Komorbiditäten und Störungen wie Depressionen, Ängste, Substanzabhängigkeiten und somatoforme Störungen sowie chronische Suizidalität oder selbstverletzendes Verhalten auf (Sack et al. 2022). In der wissenschaftlichen Literatur werden lang andauernde und wiederholte Ereignisse, wie häusliche Gewalt, schwere emotionale Vernachlässigung sowie wiederholter sexueller, emotionaler und/oder körperlicher Missbrauch von Kindern, als Auslöser für kPTBS genannt (vgl. Gysi 2025; Sack et al. 2022; Steele et al. 2021).
Tagesklinik für Traumafolgestörungen
Im September 2023 wurde die störungsspezifisch ausgerichtete Tagesklinik im Krankenhaus der Elisabethinen eröffnet. Gegenwärtig werden in der Tagesklinik Frauen im Alter zwischen 18 und 70 Jahren behandelt, die entweder an einer Traumafolgestörung nach ICD-11 (PTBS, kPTBS, verlängerte Trauerreaktionen) oder an einer traumabedingten dissoziativen Störung (somatoforme dissoziative Störung, Depersonalisations- und Derealisationsstörung) leiden. Darüber hinaus werden auch Patientinnen mit einer Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) oder einer partiellen Dissoziativen Identitätsstörung (pDIS) behandelt, sowie mit anderen psychiatrischen Störungsbildern, die zeitlich in Zusammenhang mit potenziell traumatisierenden Erfahrungen stehen, jedoch die Kriterien der spezifisch stressassoziierten Störungen nicht erfüllen. Von der Aufnahme sind Personen mit akuter Eigen- oder Fremdgefährdung, primärer Suchterkrankung mit fehlender Abstinenzfähigkeit, schwerer Persönlichkeitsstörung, akuter Psychose, schwerer somatischer Erkrankung sowie Personen mit schwerer kognitiver Einschränkung ausgeschlossen. Derzeit (März 2025) sind sechs Plätze verfügbar, wobei langfristig eine Aufstockung auf acht Plätze vorgesehen ist. Die Dauer des Aufenthalts beträgt für Patient:innen sechs bis acht Wochen, an denen sie jeweils sechs bis acht Stunden an fünf Tagen pro Woche anwesend sind. Im Anschluss an den stationären Aufenthalt werden ambulante Nachsorgegespräche angeboten. Es werden aktuell nur Frauen in die Tagesklinik aufgenommen, da derzeit räumliche, personelle und organisatorische Ressourcen nicht ausreichen, um Traumatisierungsprozesse im Kontext von Machtunterschieden und in der Komplexität der Interaktion in Geschlechterverhältnissen adäquat bearbeiten zu können.
Ziele und Angebotsspektrum der Tagesklinik
Das tagesklinische Setting bietet Patient:innen die Möglichkeit, an einem intensiven Therapieangebot teilzunehmen, während sie in ihrer gewohnten Umgebung wohnen. Das therapeutische Angebot ist darauf ausgerichtet, Patient:innen einen sicheren Rahmen zu bieten, in dem sie neue Beziehungserfahrungen machen und dadurch ihre gegenwärtigen Beziehungsmuster neu bewerten und sich aus schädlichen Beziehungen lösen können. Darüber hinaus zielt die Therapie darauf ab, eine Reduktion störungsspezifischer Symptome wie Flashbacks, Intrusionen, Vermeidung und Hyperarousal zu erreichen. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Steigerung der Selbstwirksamkeit und die Entwicklung eines positiven Selbstbildes.
Die Patient:innen entwickeln idealerweise eine Gegenwartsorientierung und die Fähigkeit, Perspektiven für die Zukunft zu finden, was zu einer Reduktion der Wiedererlebens-Mechanismen führt. Zudem wird die Empathie für sich selbst geschult, was die Fähigkeit zur Selbstfürsorge fördert. Das übergeordnete Ziel im Gesamtverlauf des Aufenthalts besteht in der Wiederermächtigung und der Wiederherstellung (oder weiteren Stärkung) des Selbstempfindens.
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In der Einstiegsphase wird mit jeder Patientin ein traumaspezifisches Eingangsscreening durchgeführt. Dieses dient der Diagnosestellung und der leitliniengerechten Therapieplanung. So werden beispielsweise traumakonfrontative Methoden (Eye Movement Desensitization and Reprocessing [EMDR]) nur bei ausreichender Stabilität eingeplant. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Fähigkeiten zur Selbstfürsorge. Zudem werden emotions- und beziehungsregulative Fähigkeiten und Defizite erfasst, um im späteren Einzel- und Gruppenprozess daran arbeiten zu können (z. B. Abgrenzung, Selbstwertstabilisierung). Schließlich werden auch dissoziative Symptome erhoben, um die Therapieplanung erfolgsversprechend gestalten zu können. Die Tagesklinik bietet störungsspezifische psychotherapeutische Einzel- und Gruppentherapie, psychiatrisch fachärztliche Versorgung, Betreuung durch psychiatrisch geschulte Pflegefachpersonen, physio- und ergotherapeutische Maßnahmen, sowie Kunst‑, Musik‑, Tanz- und Körpertherapie. Darüber hinaus werden auch Beratungsangebote durch Sozialarbeit, Diätologie und auf Wunsch durch Seelsorge bereitgestellt.
Die Grundlage der psychotherapeutischen Interventionen in der tagesklinischen Versorgung bildet die Anwendung traumaspezifischer Psychotherapie gemäß dem Standard der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT). Die in der Tagesklinik tätigen Fachkräfte verfügen über Zusatzqualifikationen in Psychotraumatologie (EMDR, NET, Ego-State-Therapie, Screen-Technik und enaktive Traumatherapie, …).
Teil 2 Grundlegende Modelle für den Behandlungsansatz der Tagesklinik
Der Behandlungsansatz der Tagesklinik erweitert die klassische Traumabehandlung entlang der drei Phasen Stabilisierung – Konfrontation – Integration auf Basis der Theorie der strukturellen Dissoziation. Im Folgenden wird nach einer kurzen Zusammenfassung des etablierten Vorgehens der phasenorientierten traumaspezifischen Psychotherapie die Theorie der Strukturellen Dissoziation vorgestellt, auf der das Behandlungskonzept der Tagesklinik beruht.
Traumaspezifische Psychotherapie
Die derzeit als Behandlungsmethode der Wahl bei PTBS und kPTBS sowie dissoziativen Störungen geltende, phasenorientierte, traumaspezifische Psychotherapie (Keller et al. 2023; Sack et al. 2022) wird in drei Therapiephasen unterteilt:
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Die erste Phase fokussiert auf Orientierung, Sicherheit und Stabilisierung.
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In der darauffolgenden zweiten Phase liegt der Fokus auf der Bearbeitung und Integration traumatischer Erinnerungen.
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Die dritte Phase beinhaltet letztlich Integration und der Neuorientierung.
Theorie der strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit
Die Theorie der strukturellen Dissoziation stellt einen klinisch hoch relevanten Bezugsrahmen dar, um die fragmentierte Ich-Struktur bei komplex traumatisierten Patient:innen differenziert zu beschreiben. Sie ermöglicht die Sichtbarmachung und therapeutische Bearbeitung innerer Konflikte zwischen alltagsfunktionalen und traumaassoziierten Persönlichkeitszuständen. Die Integration dieses Modells in das therapeutische Vorgehen ermöglicht die Abgrenzung dissoziativer Symptome, die durch Persönlichkeitszustände hervorgerufen werden, von primär psychoformen dissoziativen Symptomen im Rahmen anderer psychiatrischer Störungen (z. B. Panikstörungen, depressive Störungen). Für die therapeutische Arbeit ergibt sich daraus eine Erweiterung der Beziehungsgestaltung und der therapeutischen Intervention, die der Dynamik komplexer Traumafolgestörungen gerecht wird. Das Modell ist eine unverzichtbare Ergänzung zur phasenorientierten Traumatherapie (Nijenhuis 2018; van der Hart et al. 2008). Ziel dieser Theorie ist es, die Konzepte bereits bestehender Dissoziationstheorien zu vereinheitlichen und dissoziative Störungen in das Spektrum traumabezogener Störungen einzuordnen (Gast und Wabnitz 2023). Gemäß dieser Theorie wird die Dissoziation der Persönlichkeit als zentrales Merkmal eines Traumas definiert (vgl. ebd.). Van der Hart et al. (2008) beschreiben, dass eine Person bei massiven traumatischen Erfahrungen mitunter nicht mehr fähig ist, sich als ein einziges Ich-Umwelt-System zu erleben, sondern sich mehrere Subsysteme entwickeln, es findet eine Aufteilung in zwei oder mehr Subsysteme (Persönlichkeitszustände) statt:
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Prototypische ANPs („anscheinend normale Persönlichkeit“) verfolgen das Ziel, das Leben im Alltag zu meistern und im Hier und Jetzt zu leben. Sie ignorieren, vermeiden und verdrängen traumatische Erinnerungen und dazugehörige Emotionen. Die posttraumatische Vermeidung, ein Symptom der PTBS, ist beim ANP-Anteil signifikant ausgeprägt (Nijenhuis 2018; van der Hart et al. 2008; Gysi 2025), und
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Prototypische EPs („emotionale Persönlichkeiten“) sind während der Traumatisierung entstanden und in den traumatischen Erinnerungen gefangen. Die daraus resultierenden Handlungssysteme sind Bindung und Abwehr von Gefahr und Bedrohung. In der Theorie der strukturellen Dissoziation werden diese EPs in fragile und kontrollierende EPs unterteilt (ebd.):
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Fragile emotionale Persönlichkeitszustände tragen schmerzhafte und verletzte Emotionen, sind auf Bindungssuche ausgerichtet und möchten erlebte traumatische Erfahrungen aus der Vergangenheit mitteilen. Gysi (2025) beschreibt, dass fragile Persönlichkeitszustände Intrusionen als vordergründiges Symptom verursachen.
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Kontrollierende EPs werden auch als täter:innenloyale oder täter:innenimitierende Anteile bezeichnet. Meist ist das Ziel dieser Anteile, Bedrohung und Gefahr durch Kampf, Flucht, Unterwerfung und Erstarrung abzuwehren, um einen Zustand der Kontrolle und Ruhe zu erzeugen (Gysi 2025; van der Hart et al. 2008).
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Die Stärke und Anzahl der dissoziierten Persönlichkeitszustände wird durch das Ausmaß, die Dauer, die Häufigkeit und den Zeitpunkt der traumatischen Erfahrung(en) beeinflusst und ist je nach Schweregrad in primäre, sekundäre und tertiäre strukturelle Dissoziation unterteilt (Nijenhuis und Mattheß 2006).
Zusätzlich zum beschriebenen phasenorientierten traumaspezifischen Vorgehen in der Psychotherapie und der Arbeit mit den unterschiedlichen Persönlichkeitszuständen weisen Steele et al. (2005) in der Therapie der strukturellen Dissoziation auf die Differenzierung und Behandlung unterschiedlicher Ebenen von Phobien hin.
Im Rahmen der Theorie der strukturellen Dissoziation wird der Begriff Phobie differenziert verwendet, um tiefgreifende, häufig unbewusste Vermeidungshaltungen gegenüber traumabezogenen Inhalten und dissoziierten Persönlichkeitszuständen zu beschreiben (Steele et al. 2005). Diese Haltung steht im Gegensatz zur allgemeineren, affektiven Angstreaktion. Diese Vermeidungshaltungen verhindern Integrationsprozesse und tragen zur Aufrechterhaltung der Dissoziation bei (Eine bloße Exposition oder kognitive Einsicht reicht in der Regel nicht aus, um diese aufzulösen). Vielmehr erfordert ihre Bearbeitung eine phasenorientierte therapeutische Vorgehensweise und eine tragfähige Beziehungsgestaltung (Nijenhuis 2018). Im Therapieverlauf zeigen sich unterschiedliche Ebenen solcher Phobien, etwa die Phobie vor der Anerkennung der Erkrankung, vor der therapeutischen Beziehung, vor Bindung und Bindungsverlust sowie Phobien zwischen den Persönlichkeitszuständen (Steele et al. 2021). Diese strukturell bedingten Vermeidungsstrategien sind zentrale therapeutische Ansatzpunkte in der Behandlung komplexer Traumafolgestörungen.
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Teil 3 Therapeutisches Vorgehen unter Beachtung der Theorie der strukturellen Dissoziation
Ein primäres Ziel in der Behandlung besteht darin, die Patient:innen dabei zu unterstützen, die Kommunikation und Kooperation der verschiedenen dissoziativen Persönlichkeitszustände zu bewerkstelligen. Dies setzt voraus, dass sich die verschiedenen dissoziativen Anteile zunächst gegenseitig erkennen, anerkennen und akzeptieren (Gast und Wabnitz 2023; Nijenhuis 2016). Eine weitere Aufgabe ist die Unterstützung der Patient:innen bei der Überwindung von Phobien hinsichtlich Bindung und Bindungsverlust (Steele et al. 2021).
Phase 1 Stabilisierungsphase – erweitert durch Aspekte der Theorie der strukturellen Dissoziation
In dieser ersten Phase geht es um die Überwindung der Phobie vor dem Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Arbeitsbeziehung. Traumatisierte Patient:innen haben oft schwere Beziehungstraumata erlebt. Es fällt ihnen oft schwer, sich auf eine Beziehung einzulassen. Sie sind oftmals in Systemen aufgewachsen, wo Selbstbestimmung und Selbstkompetenz aufgrund der Willkür der Täter:innen nicht entwickelt werden konnten. Respekt vor Bedürfnissen und Grenzen konnten diese Patient:innen nicht lernen, sie haben das Gegenteil erfahren. Häufig zeigen die Patient:innen aus dieser Erfahrung heraus Strategien, ihr Gegenüber zu regulieren (Fawning-Reaktion), mit dem Ziel, Beziehung und Sicherheit durch Anpassung zu erhalten (Steele et al. 2021). Im therapeutischen Prozess ist es daher wichtig, dass das therapeutische Setting sorgfältig besprochen und ein fester Rahmen eingehalten wird (Gast und Wabnitz 2023).
Im Vordergrund der therapeutischen Intervention stehen Psychoedukation, Stabilisierung im Alltag, Symptomreduktion im Alltag, dosierte Bindungsangebote. Ziel ist es, dass sich die Patient:innen in dieser Phase verstanden fühlen und Sicherheit in der therapeutischen Begegnung erleben. Patient:innen brauchen die Sicherheit, dass sie nicht bewertet und/oder verurteilt werden (Gysi 2025; Steele et al. 2021).
Patient:innen erleben in dieser Phase der Behandlung durch den intensiven therapeutischen Prozess im Einzelgespräch, aber auch durch die Interaktionen in der Gruppe die Konfrontation mit Bindungsängsten und Ängsten vor Veränderung. Diese Phase ist häufig durch Instabilität gekennzeichnet, Patient:innen reagieren auf Belastungen mit Rückzug, schweren Krisen mit suizidalen Krisen und/oder selbstverletzendem Verhalten (Gysi 2025; Steele et al. 2021).
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Steele et al. (2021) weisen darauf hin, dass der Fokus auf den Prozess und nicht auf den Inhalt für die Behandlung wesentlich ist. So empfehlen sie, die Patient:innen darin zu unterstützen, im gegenwärtigen Moment zu bleiben und sich auf das zu konzentrieren, „was in ihrem Inneren und in der Beziehung im Hier und Jetzt geschieht“. Als wesentliche Behandlungsprinzipien beschreiben sie weiterhin, dass die Behandlung innerhalb des Toleranzfensters der Patient:innen, aber auch der Therapeut:innen bleiben soll, die Mentalisierungsfähigkeit der Patient:innen gestärkt werden soll und alle dissoziierten Anteile als Aspekte der einen Person gesehen und behandelt werden sollen (Steele et al. 2021).
Phase 2 Konfrontation – erweitert durch Aspekte der Theorie der strukturellen Dissoziation
Patient:innen beschreiben oft widersprüchliche innere Erfahrungen. Wenn sie diese Erfahrungen selbst als Persönlichkeitszustände bezeichnen, können wir ihnen mit diagnostischen Fragen helfen, die Dynamik zwischen diesen Anteilen zu erforschen. Die Antworten geben Aufschluss über die Anzahl der Anteile und die vorhandene Kommunikation und Kooperation zwischen den verschiedenen Persönlichkeitszuständen. Weiters werden Fragen wie „Welche Ressourcen habe ich heute?“ oder „Wo sind die Täter:innen heute?“ gestellt, die helfen, den bereits vorhandenen Gegenwartsbezug zu erkunden und Auskunft darüber zu geben, welche Anteile in dieser Phase der Therapie welchen Gegenwartsbezug haben bzw. in welcher Zeit die Anteile leben (Präsentifikation). Zusätzlich werden in dieser Phase Fragen zur Personifizierung gestellt, wie z. B. „Was braucht mein Körper?“ oder „Was brauche ich?“, um die Ich-Wahrnehmung einzelner Persönlichkeitszustände zu erkennen (vgl. Gysi 2025).
Anschließend geht es um die Realisierung traumatischer Erinnerungen und die Bearbeitung von Phobien zwischen den verschiedenen dissoziativen Anteilen (Steele et al. 2005; Mattheß und Nijenhuis 2006). Insbesondere ANPs und kontrollierende EPs benötigen Unterstützung im Umgang mit der Phobie vor traumatischen Erinnerungen fragiler emotionaler Persönlichkeitszustände (Nijenhuis 2018). In dieser Phase werden die Patient:innen mit ihrer Angst vor starken Affekten durch das Sprechen über traumatische Erinnerungen konfrontiert.
Je weiter der therapeutische Prozess fortschreitet, desto stärker werden die Patient:innen mit ihren Bindungsängsten konfrontiert (Was denkt die Therapeutin oder die Gruppe, wenn ich erzähle? Wird mir geglaubt?). Die dosierte Überwindung der posttraumatischen Vermeidung trägt zum therapeutischen Fortschritt bei (Gysi 2025).
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Die Patient:innen entwickeln gemeinsam mit der Therapeutin Strategien, um die Kommunikation mit den dissoziierten Persönlichkeitszuständen zu fördern. So kann z. B. die Aufforderung, auf innere Stimmen zu achten (falls vorhanden), diese Kontaktaufnahme mit den dissoziierten Persönlichkeitszuständen erleichtern.
Phase 3 Integration – erweitert durch Aspekte der Theorie der strukturellen Dissoziation
In der abschließenden dritten Phase geht es um erfolgreiche Trauer und weitere Veränderung und Entwicklung (Steele et al. 2021). Diese Prozesse sind mit intensiven Gefühlen wie Trauer und Verlustschmerz (durch Abschied nach erfolgreicher Behandlung) verbunden. Neuorientierung und Veränderungen im Leben gehen oft mit neuen Beziehungserfahrungen einher, daher benötigen Patient:innen in der Abschlussphase auch Unterstützung bei der Überwindung von Phobien in Bezug auf Intimität, Körperlichkeit und Sexualität (Gysi 2025; Steele et al. 2021).
Teil 4 Bisheriges Resümee des klinischen Alltags in der Tagesklinik
In diesem abschließenden Abschnitt möchten wir einige klinische Erfahrungen aus nunmehr 18 Monaten tagesklinischer Tätigkeit mit insgesamt rund 60 Patient:innen weitergeben.
Ein zentrales Prinzip unseres Konzepts ist der partizipative, ressourcenorientierte, auf Augenhöhe stattfindende Umgang mit den Patient:innen. Ihnen wird ein hohes Maß an Eigenverantwortung für den therapeutischen Prozess übertragen. Für Patient:innen mit stark ausgeprägten please-and-appease-Verhalten stellt diese Haltung eine erhebliche Herausforderung dar. Gleichzeitig eröffnet die Übernahme von Verantwortung jedoch neue Handlungsspielräume in Richtung Selbstfürsorge und Abgrenzung. Häufig ist dabei auch eine Zunahme der reflexiven Selbstwahrnehmung zu beobachten. Je nach Ausprägung struktureller Persönlichkeitsmerkmale zeigt sich eine mehr oder weniger deutliche Reduktion dysfunktionaler Anpassungsstrategien.
Die therapeutische Beziehungsgestaltung erfährt besondere Aufmerksamkeit – auch über formalisierte Einzel- und Gruppensettings hinaus. Kontakte zu Mitarbeitenden werden bewusst auch „am Rande des therapeutischen Geschehens“ zugelassen und gefördert, etwa während der Essenszeiten, in Pausen oder bei zufälligen Begegnungen im Haus. Dadurch entsteht eine Atmosphäre, die von vielen Patient:innen als „fast familiär, aufmerksam und reflektiert“ beschrieben wird. Diese bietet ein kontinuierliches „Reparaturangebot“ für unvermeidbare Mikrobrüche in der Beziehungserfahrung.
Die Theorie der strukturellen Dissoziation bildet den konzeptuellen Rahmen unserer Arbeit und unterstützt eine offene, validierende Haltung gegenüber dissoziativen Symptomen in ihrer individuellen Ausprägung. Im Einzelsetting vermeiden wir es, ein bestimmtes Modell aktiv vorzugeben. Stattdessen begleiten wir die Patient:innen dabei, eine eigene Sprache für ihr inneres Erleben zu entwickeln. Kognitive, affektive und somatische Prozesse werden gemeinsam exploriert, wobei die gegenwärtige therapeutische Beziehung als Resonanzraum genutzt wird. Die wertfreie Akzeptanz des Erlebten im Hier und Jetzt bildet den Ausgangspunkt für Veränderung.
Ein breites Angebot kreativtherapeutischer Verfahren sowie eine enge interdisziplinäre Abstimmung aller therapeutischen Maßnahmen ermöglichen Veränderungsprozesse, die über rein kognitive Einsichten hinausgehen. Nonverbale, verkörperte Therapieelemente fördern erfahrungsbasierte Integration.
Innerhalb der ambulanten Nachsorge, die sich über einen Zeitraum von drei Monaten erstreckt, zeigen erste Auswertungen von Selbsteinschätzungsbögen eine Reduktion typischer Symptome wie Flashbacks, Intrusionen, Vermeidung und Hyperarousal. Eine vertiefte wissenschaftliche Auswertung erfolgt, sobald eine ausreichende Datenlage vorliegt; eine weiterführende Publikation ist geplant.
Da im begrenzten Zeitraum von sechs bis acht Wochen meist nur fragmentarische konfrontative Trauma-Arbeit möglich ist, liegt ein zentraler Fokus auf der Stärkung der Motivation zur Fortführung einer ambulanten, störungsspezifischen Psychotherapie. Die praktische Unterstützung durch sozialarbeiterische Begleitung bei der Organisation dieser Anschlussbehandlung ist fester Bestandteil unseres Konzepts. Die Einsicht, dass Traumatherapie in diesem Setting keine „schnelle Lösung“ bieten kann, stellt für viele Patient:innen eine notwendige Enttäuschung dar – und gleichzeitig die Grundlage für realistische therapeutische Erwartungen.
Zusammenfassend verstehen wir die tagesklinische Traumatherapie als ein integratives Angebot für komplex traumatisierte Menschen, das intensiv auf Bindungsaspekte fokussiert und – orientiert an individueller Bereitschaft und Fähigkeit – auch therapeutische Zugänge zur strukturell dissoziativen Symptomatik eröffnet.
Aus dem dargestellten Behandlungskonzept ergeben sich relevante Forschungsfragen für die Weiterentwicklung tagesklinischer Traumatherapie: Im Hinblick auf Beziehung und Bindung stellt sich die Frage, welche Auswirkungen eine konsequent partizipative, beziehungsorientierte therapeutische Haltung im tagesklinischen Setting auf das Bindungserleben und die Beziehungsfähigkeit von Patient:innen mit komplexer Traumatisierung hat.
Bezogen auf das tagesklinische Setting gilt es zu untersuchen, inwieweit diese Behandlungsform bei Patient:innen mit komplexer PTBS und dissoziativen Störungen zu einer Reduktion spezifischer Symptome, einer verbesserten Selbstwahrnehmung sowie einer gesteigerten Motivation zur Weiterführung ambulanter Psychotherapie beiträgt.
Interessenkonflikt
B. Hinteregger, D. Brunner, K. Dsubanko-Obermayr und A. Spielberger geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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