Zum Inhalt
Erschienen in:

Open Access 28.05.2025 | originalarbeit

Autonomie und Fürsorge im Spannungsfeld: Eine kritische Betrachtung des assistierten Suizids bei Komplexer Posttraumatischer Belastungsstörung

verfasst von: Kathrin Petersdorfer, Gerd Mantl

Erschienen in: Psychotherapie Forum | Ausgabe 1-2/2025

Zusammenfassung

Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung bedeutet ein chronisches Leiden, das in der Regel einer langfristigen Begleitung bedarf. Eine Symptomreduktion ist möglich, die vollständige Heilung jedoch unwahrscheinlich. Betroffene Patient:innen haben oft eine lange Leidensgeschichte mit langwierigen und herausfordernden Therapieprozessen. Ihr Leben ist geprägt von den kumulierten Auswirkungen zahlreicher Rückschläge sowie Traumatisierungen, Misstrauen, Hoffnungslosigkeit und einem zerrütteten Weltbild. Die erhöhte Vulnerabilität begünstigt weitere Traumatisierungen über die Lebensspanne und geht oft mit chronischer Suizidalität einher.
Mit Inkrafttreten des Sterbeverfügungsgesetzes am 01.01.2022 ist in Österreich der assistierte Suizid zulässig. Wie können wir als Psychotherapeut:innen mit dem Wunsch nach assistiertem Suizid bei Patient:innen, die unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung leiden, umgehen? Anhand eines Fallbeispiels setzen die Autor:innen sich mit der Rolle von Psychotherapeut:innen in dieser speziellen Situation auseinander. Die Balance zwischen der Wahrung der Autonomie der Patient:innen und der Verpflichtung zur Suizidprävention wird unter Berücksichtigung ethischer sowie berufspraktischer Aspekte und aktueller Forschungsergebnisse diskutiert.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
„Keine Sorge, ich bin momentan nicht suizidal, nur sehr müde. Die Therapie fühlt sich zurzeit eher wie eine zusätzliche Belastung an. Ich möchte nur schlafen. Wenn ich etwas ausgeruhter bin, melde ich mich wieder.“ Das waren die letzten Worte des Patienten in Form einer SMS. Er beging, nach unzähligen vorangegangenen Versuchen, wenige Tage später erfolgreich Suizid.
Er beschrieb im Rahmen der Psychotherapie unfassbare Qualen seit der Geburt. Seine traumatischen Erfahrungen umfassten etwa schweren sexuellen Missbrauch, extreme Gewalt und psychisch kranke Eltern, die im Haus Feuer legten. Nachdem er jahrelang in einem Schuppen eingesperrt verbracht hatte, sah er mit an, wie sein Vater verstarb. Im Erwachsenenalter folgten Obdachlosigkeit und Prostitution. Der Wunsch „nicht mehr Leben zu müssen“ habe ihn seit seiner Kindheit begleitet. Seine einzige Paarbeziehung war von Konflikten, beidseitiger Gewalt, Intrusionen, Substanzmissbrauch und selbstverletzendem Verhalten geprägt.
Über Jahre hinweg verbachte er Monate auf psychiatrischen Stationen, nahm stabilisierende Medikamente ein und erlangte ein umfangreiches Wissen über sich selbst, Trauma, Traumafolgen sowie Bewältigungsstrategien und Techniken zur Reduktion von Stress und Anspannung. Dennoch drängten sich ständig Gedanken zum „Davor“ auf, Vergleiche mit dem bisher Erlebten erfolgten zeitgleich mit positiven Erlebnissen, Misstrauen und Angst begleiteten jede Erfahrung. Immer wieder betonte der Patient, dass er mit seinen Erinnerungen und den körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen nicht mehr weiterleben konnte und wollte. Seine Suizidalität war ein omnipräsentes Thema im psychotherapeutischen Prozess. Im Rahmen der Supervision wurde es immer wieder ausgesprochen: „Irgendwann wird er es schaffen“, und schließlich: „Endlich leidet er nicht mehr.“
Hätte es zum damaligen Zeitpunkt die Möglichkeit des assistierten Suizids gegeben, wäre der Mann möglicherweise in einer würdevolleren Weise verstorben.
Am 11.12.2020 erklärte der Verfassungsgerichtshof (VfGH) die bisherige Strafbarkeit der Beihilfe zum Suizid für verfassungswidrig (VfGH Wien/Österreich 2020). Mit Inkrafttreten des Sterbeverfügungsgesetzes, BGBl. I Nr. 242/2021, am 01.01.2022 ist in Österreich der assistierte Suizid bei „1. an einer unheilbaren, zum Tod führenden Krankheit (§ 120 Z 1 ASVG) oder 2. an einer schweren, dauerhaften Krankheit (§ 120 Z 1 ASVG) mit anhaltenden Symptomen“ leidenden Menschen zulässig, sofern sie „in ihrer gesamten Lebensführung dauerhaft“ beeinträchtigt und einem „nicht anders abwendbaren Leidenszustand“ ausgesetzt sind (Bundeskanzleramt der Republik Österreich 2021). Weiterhin verboten ist die Tötung auf Verlangen und damit die gezielte Beendigung des Lebens einer Person durch eine:n Andere:n wie auch die Verleitung zum Suizid (Parlament Österreich 2021).
Per Definitionem ist die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS) (Gysi 2025; WHO 2022) eine schwere, dauerhafte Erkrankung, deren Symptome anhalten und die Betroffenen dauerhaft in ihrer gesamten Lebensführung beeinträchtigen. Komorbiditäten mit weiteren psychischen Erkrankungen sowie somatischen Beschwerden verstärken diese Beeinträchtigung. Komplexer ist die Frage, ob der Leidenszustand der Betroffenen „nicht anders abwendbar“ ist.
Gaignard et al. (2023) definieren existenzielles Leiden als den Verlust eines subjektiv empfundenen Lebenssinns. Traumabedingte Beeinträchtigungen im Hinblick auf körperliche Gesundheit, Selbständigkeit und Identität, sowie erlebte Einsamkeit und soziale Einschränkungen, die einander jeweils verstärken können, führen dazu, dass das Leben als nicht (mehr) lebenswert empfunden wird. In der Studie berichten Schweizer Fachkräfte, die mit assistiertem Suizid bei psychisch Erkrankten konfrontiert sind, von Hilflosigkeit und ethischen Konflikten im Umgang mit dem Wunsch nach assistiertem Suizid. Sie sind sich einig, dass die Intensität des Leidens eines Menschen subjektiv ist und nicht von außen bewertet werden kann, weshalb der Wunsch nach assistiertem Suizid unter bestimmten Umständen als gerechtfertigt angesehen wird. Diejenigen, die den assistierten Suizid generell ablehnen, begründen dies damit, den Wunsch nach einem selbstbestimmten Tod, selbst wenn er nachvollziehbar ist, nicht unterstützen zu können. Für die Befragten ist zentral, dass alle Möglichkeiten der Linderung des Leidens ausgeschöpft sind, bevor ein assistierter Suizid in Erwägung gezogen wird. Die Arbeit mit Patient:innen konzentriert sich daher auf die (Wieder‑)Herstellung eines Lebenssinnes, etwa durch Aktivierung oder Stärkung des sozialen Netzes, Aufnahme von Aktivitäten, oder Gespräche zu Sinn- und Identitätsfragen. Das Vorhandensein eines subjektiven Lebenssinns fördert Wohlbefinden und Resilienz. Für komplex traumatisierte Menschen kann es (nahezu) unmöglich erscheinen, einen Sinn in ihrer Existenz zu sehen. Jedoch kann auch die Suche nach diesem Sinn per se sinnstiftend wirken.
Scopetti et al. (2023) betonen, dass das subjektiv empfundene Leiden nicht nur durch innerpsychische Faktoren, sondern auch durch äußere Faktoren wie sozioökonomische Bedingungen beeinflusst wird. Bei der Reduktion des Leids einer psychisch erkrankten Person liegt die Verantwortung nicht nur bei den Gesundheitsberufen, sondern es braucht eine ganzheitliche Betrachtung des Leidens unter Berücksichtigung sozialer, politischer und struktureller Bedingungen. Der Wunsch nach einem assistierten Suizid aufgrund psychischer Probleme sollte also auch als Symptom tieferliegender gesellschaftlicher Probleme betrachtet werden, da sich die Frage stellt, inwieweit Menschen mit psychischen Erkrankungen die Unterstützung erhalten, die sie tatsächlich benötigen.

Prognose bei kPTBS

Die Heilungschancen bei der kPTBS sind abhängig von Art und Zeitraum der traumatischen Erfahrungen, Komorbiditäten, der individuellen Resilienz und der Behandlung (Wright 2024). Während bei einigen Betroffenen eine deutliche Symptomreduktion möglich ist, bleiben andere langfristig erheblich beeinträchtigt. Eine vollständige Symptomfreiheit ist jedoch eher nicht zu erwarten und eine langfristige psychotherapeutische Begleitung ist daher unerlässlich (Wright 2024). Die kPTBS geht mit einer deutlich gesteigerten Vulnerabilität einher, die einen kumulativen Effekt bewirkt – frühere Traumata werden reaktiviert, zugleich erfolgen weitere, zusätzlich destabilisierende Traumatisierungen. Entsprechend des Kaskadenmodells (Maercker et al. 2022) entstehen fortlaufende Wechselwirkungen auf psychischer, physischer und sozialer Ebene, die unter anderem psychische und somatische Erkrankungen begünstigen, den Alterungsprozess beschleunigen und die Lebenserwartung reduzieren. Traumata begünstigen die Entstehung anderer psychischer Erkrankungen wie Depressionen, bipolare Störungen, Angststörungen und Suchterkrankungen; zugleich hat PTBS einen negativen Einfluss auf deren Verlauf. Patient:innen mit kPTBS erkranken zu 70 % an einer komorbiden Störung. (Frommberger et al. 2014).
Blain et al. (2023) weisen darauf hin, dass sowohl bei der PTBS als auch in Bezug auf Suizidalität das subjektive Empfinden, eine Belastung für andere darzustellen, sowie ein Mangel an Zugehörigkeit entscheidende Faktoren sind. Die Reduktion dieses Belastungsempfindens korreliert mit einem Rückgang suizidaler Gedanken.

kPTBS und Suizidalität

In Österreich sind 2023 nachweislich 1212 Personen durch Suizid verstorben. Statistisch wird davon ausgegangen, dass die Anzahl von Suizidversuchen etwa zehn- bis dreißigmal höher ist. In der Todesursachenstatistik sind assistierte Suizide Teil dieser Suizidzahlen. Insgesamt kam es zu 98 assistierten Suiziden durch „Selbstvergiftung“, davon 54 Frauen und 44 Männer, wobei die meisten älter als 55 Jahre waren (BMSGPK 2024). Genauere Daten zu den Krankheitsbildern werden derzeit nicht veröffentlicht. Bekannt ist, dass drei von zehn Personen, die sich 2022 bei der Patient:innenanwaltschaft zur Möglichkeit des assistierten Suizids erkundigten und Angaben zu ihren Erkrankungen machten, an unheilbaren psychischen Erkrankungen litten (Burda 2023).
Bei Personen, die in der Kindheit misshandelt bzw. missbraucht wurden, ist das Suizidrisiko um das Zwei- bis Dreifache erhöht. Mit Schweregrad und Dauer dieser Erfahrungen erhöht sich das Suizidrisiko im Erwachsenenalter ganz besonders (Angelakis et al. 2019).
KPTBS ist ein signifikanter Prädiktor für Suizidalität bei Jugendlichen mit schwerer Depression (Liu et al. 2024) sowie Menschen mit bipolarer Störung (Iazzolino et al. 2024). Chong et al. (2024) zeigen einen Zusammenhang zwischen kPTBS und Suizidalität, der über die Auswirkungen einer PTBS hinausgeht. Sie unterstreichen damit die Bedeutung der Berücksichtigung einer kPTBS bei der Bewertung des Suizidrisikos und die Notwendigkeit spezifischer Behandlungsansätze für Menschen mit dieser Diagnose. Auch Metaanalysen (Favril et al. 2023) und spezifische Studien (Robinson et al. 2023) belegen übereinstimmend das erhöhte Suizidrisiko von Menschen mit kPTBS, insbesondere in Kombination mit weiteren Risikofaktoren wie früheren Suizidversuchen, dem Vorliegen weiterer psychischer Erkrankungen oder frühen Traumatisierungen.

Ethische und berufspraktische Gesichtspunkte

Betrachtet man den Fall des Patienten, steht außer Frage, dass er an einer schweren, dauerhaften Erkrankung mit anhaltenden Symptomen litt, die ihn anhaltend in seiner gesamten Lebensführung beeinträchtigte. Sein Leidenszustand schien permanent, bestenfalls war eine kurzzeitige minimale Symptomreduktion zu erreichen, sein Alltag war geprägt von der Anwendung von Strategien zur Aufrechterhaltung einer gewissen Funktionalität.
Ist es ethisch vertretbar, dass ein Mensch sein „natürliches Leben“ lang unter unerträglichen Symptomen leiden muss und dieses großteils von der Bewältigung dieser Symptome bestimmt wird? Hat ein Mensch nicht das Recht auf ein Leben, das mehr als bloße Symptomkontrolle ist? Wenn chronische Erkrankungen dieses Recht dauerhaft einschränken, wirft das grundlegende ethische Fragen auf, die es im Zusammenhang mit assistiertem Suizid zu stellen gilt.
Im Fall des Patienten wurden seine Erwartungen und Vorstellungen im Hinblick auf Lebensziele thematisiert, etwa der Wunsch nach einer Familie. Aufgrund seiner schwerwiegenden Leidenszustände und Einschränkungen schienen sie nicht realisierbar.
Patient:innen sind in ihrer Selbstbestimmung zu respektieren, auch die Entscheidung über das eigene Lebensende betreffend; jedoch haben Psychotherapeut:innen eine Verantwortung bzw. Fürsorgepflicht gegenüber den Patient:innen, die auch Suizidprävention umfasst (Wolfersdorf und Etzersdorfer 2023). Braun (2024) unterscheidet zwischen einem fürsorgebasierten und einem autonomiebasierten Ansatz. Ersterer sieht den assistierten Suizid als eine Handlung zum Wohl der Person, die um Hilfe beim Suizid bittet, wobei hier ein objektives Werturteil über das Leiden vorausgesetzt wird. Zusätzlich wird das Expressionsargument als Kritikpunkt genannt, welchem zufolge „die rechtliche Beschränkung des Zugangs zu assistiertem Suizid auf eine bestimmte Personengruppe negative Urteile über den Wert des Lebens aller Personen ausdrücken [kann], die dieser Gruppe angehören“ (Braun 2024, S. 184). Beim autonomiebasierten Ansatz wird hingegen das Recht auf Selbstbestimmung und die freie Entscheidung des einzelnen Menschen über sein Leben und Sterben betont, wobei das individuelle Urteil über die eigene Lebensqualität und Vorstellung eines sinnvollen Lebens im Vordergrund stehen. Zentral ist hierbei, dass der Wunsch nach assistiertem Suizid auf dem autonom gebildeten, freien Willen beruhen und die Einwilligung informiert und freiwillig erfolgen muss. Das Expressionsargument wird durch einen autonomiebasierten Ansatz umgangen, da die Entscheidung des:der Einzelnen nicht als gesellschaftliches Signal verstanden wird, sondern als Ausdruck individueller Selbstbestimmung. Das Urteil des VfGH Wien/Österreich (2020) entspricht einem autonomiebasierten Ansatz, der die Patient:innenperspektive hervorhebt. Der assistierte Suizid ist damit in Österreich auch bei psychisch erkrankten Personen prinzipiell gesetzeskonform.
Die Fähigkeit zur selbstbestimmten Entscheidung über den assistierten Suizid ist von der individuellen Schwere und Dauer der psychischen Erkrankung abhängig. Während eine akute Psychose diese Fähigkeit eindeutig ausschließt, erfordert eine chronische Belastung eine differenzierte Betrachtung im Einzelfall. Eine Person, die einen assistierten Suizid wünscht, hat sich in der Regel bewusst und nach reiflicher Überlegung für diesen Weg entschieden. Die Handlung ist geplant und dient dem selbstbestimmten Sterben.
Wie Schroth (2020) betont, muss der Wunsch nach assistiertem Suizid aus einem autonomen, den Wertvorstellungen der Patient:innen entsprechenden Willen resultieren, nicht aus einer Beeinflussung durch Dritte oder belastende Umstände. Menschen mit psychischen Erkrankungen sind aufgrund ihrer Vulnerabilität leichter beeinflussbar und ihre Selbstbestimmungsfähigkeit kann durch die Erkrankung eingeschränkt sein, wie Wolfersdorf und Etzersdorfer (2023) hervorheben. Auch Kowalinski und Huber (2024) weisen darauf hin, dass traumatische Erfahrungen und die damit verbundenen Symptome die Entscheidungsfindung von Patient:innen mit kPTBS beeinflussen können. In ihrer Arbeit schlussfolgern Wolfersdorf und Etzersdorfer (2023) in Richtung der Notwendigkeit einer vertrauensvollen Beziehung und einer ausreichenden sowie für jede Person verfügbaren suizidpräventiven und palliativen Hilfestellung, wie sie in unserer Gesellschaft nicht immer gegeben zu sein scheint. Ein einfühlsames Verstehen des Wunsches nach Selbsttötung mit dem Ziel, Hilfe zum Leben – und nicht zum Sterben – zu geben, sollte im Vordergrund stehen. Sie plädieren für eine umfassende Betrachtung, die Suizidprävention und alternative Hilfsangebote in den Vordergrund stellt, statt eine schnelle Lösung durch den assistierten Suizid zu suchen.
Im vorliegenden Fall kam es zu jahrelangen, mehrfachen, multiperspektivischen, therapeutischen Zugängen, weshalb hier alternative suizidpräventive und helfende Angebote gegeben waren. Mit Sicherheit war der Suizidwunsch des Patienten durch seine depressive Symptomatik beeinflusst. Zugleich war die Behandlung ebendieser Symptomatik sowie auch ihrer Ursache, der kPTBS, insgesamt erfolglos, und somit teilweise auch die Begründung für seinen Wunsch. Hätte es die Möglichkeit des assistierten Suizids gegeben, wäre es zur Abwägung der obengenannten Punkte gekommen.
Wie können sich Psychotherapeut:innen in dieser Situation positionieren?
Klare ethische Richtlinien und Leitlinien können Psychotherapeut:innen sowie anderen betroffenen Berufsgruppen helfen, in solchen Fällen die Autonomie der Patient:innen zu respektieren und gleichzeitig den Schutz derjenigen gewährleisten, deren Selbstbestimmungsfähigkeit eingeschränkt ist (Kowalinski und Huber 2024).
Behandelnde sollten ihre eigene Haltung zu Suizid und Sterbehilfe reflektieren und sich fragen, welche Werte sie leiten und wie diese mit den Werten der Patient:innen in Einklang zu bringen sind. Nur so können wir authentisch mit den Patient:innen arbeiten, ihre Wünsche und Bedürfnisse respektieren und sie bestmöglich dabei unterstützen, eine für sie richtige Entscheidung zu treffen. Die eigenen Gefühle und Befindlichkeiten müssen von den denen der Patient:innen getrennt bleiben, der Fokus sollte immer auf den Werten und Bedürfnissen der Betroffenen liegen (Birkenstock 2022; Hahlweg 2024).
Eine auf Intersubjektivität basierende Therapie berücksichtigt sowohl die Perspektiven der Patient:innen als auch die der Therapeut:innen und begünstigt eine von Respekt, Vertrauen und dem gemeinsamen Bemühen um das Wohl der Patient:innen geprägte therapeutische Beziehung (Leitner und Höfner 2020). Betrachten wir die eben erfolgten Ausführungen, so sollte es im Rahmen der Psychotherapie zu einer differenziellen Erfassung der individuellen Situation des:der Patient:in unter Berücksichtigung der Lebensgeschichte, aktueller Belastungen und Ressourcen kommen. Das Aufzeigen von Alternativen zur Suizidassistenz, wie zum Beispiel Gespräche mit Palliativ-Care-Expert:innen, und die Umsetzung dieser Alternativen können unterstützt werden, wobei zuvor der Suizidprävention ein wichtiger Stellenwert zukommt. Sterbewünsche sollen offen thematisiert werden, außerdem soll eine diagnostische Einordnung von potenzieller Suizidalität erfolgen. Die Entscheidung für oder gegen einen assistierten Suizid muss als individueller Prozess betrachtet werden, in dem der:die Patient:in die Möglichkeit hat, die eigenen Sichtweisen, Wünsche, Beweggründe und Ziele einzubringen, um dann gemeinsam das weitere Vorgehen in der Therapie sowie mögliche bzw. noch vorhandene Therapieoptionen zu erarbeiten. Unter der Voraussetzung, dass der assistierte Suizid die einzig tragbare, alternativlose Lösung ist, so Richter (2024), ist zu entscheiden, ob dieser Entschluss von Therapeut:innenseite ethisch mitgetragen werden kann. Wenn dem so ist, dann können Psychotherapeut:innen bei der Entscheidungsfindung helfen und, wenn keine weitere Suizidprävention möglich und der assistierte Suizid die einzige Option ist, Patient:innen bis zum Tod begleiten, solange deren Selbstbestimmung im Vordergrund steht.
Zum jetzigen Zeitpunkt besteht trotz des gesetzlichen Rahmens viel Unsicherheit, standardisierte Beratungsangebote fehlen. Hier spielt die psychotherapeutische Begleitung eine wichtige Rolle. Die unterschiedlichen Perspektiven der Patient:innen, Angehörigen und Fachkräfte beinhalten ein Konfliktpotenzial, weshalb neben der Begleitung von Patient:innen gegebenenfalls auch die Einbindung von Angehörigen und ein interdisziplinärer Dialog zwischen verschiedenen Fachrichtungen als sinnvoll erachtet wird.
Psychotherapeut:innen haben in Österreich keine Verpflichtung, an einem assistierten Suizid mitzuwirken oder diesen zu begleiten, sondern können dies ablehnen. Die Frage, ob ein:e Psychotherapeut:in die Suizidassistenz ethisch mittragen kann, bleibt eine individuelle Entscheidung und erfordert die persönliche Auseinandersetzung mit der Thematik.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

K. Petersdorfer und G. Mantl geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Ethische Standards

Zum Schutz der Privatsphäre im Fallbeispiel wurden Daten anonymisiert bzw. verallgemeinert.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
Zurück zum Zitat Blain, R., Martin, C., Ehlinger, C., & Chard, K. (2023). Evidence-based treatment for posttraumatic stress disorder decreases suicidal ideation by reducing perceived burdensomeness among veterans in an outpatient program. Journal of Trauma & Stress, 36(6), 1138–1150. https://doi.org/10.1002/jts.23004.CrossRef Blain, R., Martin, C., Ehlinger, C., & Chard, K. (2023). Evidence-based treatment for posttraumatic stress disorder decreases suicidal ideation by reducing perceived burdensomeness among veterans in an outpatient program. Journal of Trauma & Stress, 36(6), 1138–1150. https://​doi.​org/​10.​1002/​jts.​23004.CrossRef
Zurück zum Zitat Braun, E. (2024). Fürsorge und Autonomie als normative Grundlagen von assistiertem Suizid. In C. Bozzaro, G. Richter & C. Rehmann-Sutter (Hrsg.), Ethik des assistierten Suizids: Autonomien, Vulnerabilitäten, Ambivalenzen (S. 175–186). Bielefeld: transcript.CrossRef Braun, E. (2024). Fürsorge und Autonomie als normative Grundlagen von assistiertem Suizid. In C. Bozzaro, G. Richter & C. Rehmann-Sutter (Hrsg.), Ethik des assistierten Suizids: Autonomien, Vulnerabilitäten, Ambivalenzen (S. 175–186). Bielefeld: transcript.CrossRef
Zurück zum Zitat Burda, G. (2023). Ein Jahr Sterbeverfügung: Daten und Fakten. Österreichische Jurist:innenzeitung, Bd. 59 (S. 350–351). Wien: Manz. Burda, G. (2023). Ein Jahr Sterbeverfügung: Daten und Fakten. Österreichische Jurist:innenzeitung, Bd. 59 (S. 350–351). Wien: Manz.
Zurück zum Zitat Favril, L., Yu, R., Geddes, J. R., & Fazel, S. (2023). Individual-level risk factors for suicide mortality in the general population: an umbrella review. The Lancet Public Health, 8(11), e868–e877.CrossRefPubMedPubMedCentral Favril, L., Yu, R., Geddes, J. R., & Fazel, S. (2023). Individual-level risk factors for suicide mortality in the general population: an umbrella review. The Lancet Public Health, 8(11), e868–e877.CrossRefPubMedPubMedCentral
Zurück zum Zitat Gysi, J. (2025). Diagnostik von Traumafolgestörungen. Multiaxiales Trauma-Dissoziations-Modell nach ICD-11. Bern: Hogrefe. Gysi, J. (2025). Diagnostik von Traumafolgestörungen. Multiaxiales Trauma-Dissoziations-Modell nach ICD-11. Bern: Hogrefe.
Zurück zum Zitat Hahlweg, P. (2024). Personenzentrierung und gemeinsame Entscheidungsfindung im Kontext des assistierten Suizids. In C. Bozzaro, G. Richter & C. Rehmann-Sutter (Hrsg.), Ethik des assistierten Suizids: Autonomien, Vulnerabilitäten, Ambivalenzen (S. 277–287). Bielefeld: transcript.CrossRef Hahlweg, P. (2024). Personenzentrierung und gemeinsame Entscheidungsfindung im Kontext des assistierten Suizids. In C. Bozzaro, G. Richter & C. Rehmann-Sutter (Hrsg.), Ethik des assistierten Suizids: Autonomien, Vulnerabilitäten, Ambivalenzen (S. 277–287). Bielefeld: transcript.CrossRef
Zurück zum Zitat Kowalinski, E., & Huber, C. G. (2024). Suizidhilfe bei psychisch Erkrankten – welche Kriterien entscheiden? In C. Bozzaro, G. Richter & C. Rehmann-Sutter (Hrsg.), Ethik des assistierten Suizids: Autonomien, Vulnerabilitäten, Ambivalenzen (S. 131–144). Bielefeld: transcript. Kowalinski, E., & Huber, C. G. (2024). Suizidhilfe bei psychisch Erkrankten – welche Kriterien entscheiden? In C. Bozzaro, G. Richter & C. Rehmann-Sutter (Hrsg.), Ethik des assistierten Suizids: Autonomien, Vulnerabilitäten, Ambivalenzen (S. 131–144). Bielefeld: transcript.
Zurück zum Zitat Leitner, A., & Höfner, C. (2020). Handbuch der Integrativen Therapie. Springer.CrossRef Leitner, A., & Höfner, C. (2020). Handbuch der Integrativen Therapie. Springer.CrossRef
Zurück zum Zitat Parlament Österreich (2021). Parlamentskorrespondenz Nr. 1419. 7. Dezember Parlament Österreich (2021). Parlamentskorrespondenz Nr. 1419. 7. Dezember
Zurück zum Zitat Richter, G. (2024). Einsamkeit und assistierter Suizid im Alter. In C. Bozzaro, G. Richter & C. Rehmann-Sutter (Hrsg.), Ethik des assistierten Suizids: Autonomien, Vulnerabilitäten, Ambivalenzen (S. 223–232). Bielefeld: transcript.CrossRef Richter, G. (2024). Einsamkeit und assistierter Suizid im Alter. In C. Bozzaro, G. Richter & C. Rehmann-Sutter (Hrsg.), Ethik des assistierten Suizids: Autonomien, Vulnerabilitäten, Ambivalenzen (S. 223–232). Bielefeld: transcript.CrossRef
Zurück zum Zitat Wolfersdorf, M., & Etzersdorfer, E. (2023). Suizid und Suizidprävention: Ein Handbuch für die medizinische und psychosoziale Praxis. Stuttgart: Kohlhammer. Wolfersdorf, M., & Etzersdorfer, E. (2023). Suizid und Suizidprävention: Ein Handbuch für die medizinische und psychosoziale Praxis. Stuttgart: Kohlhammer.
Metadaten
Titel
Autonomie und Fürsorge im Spannungsfeld: Eine kritische Betrachtung des assistierten Suizids bei Komplexer Posttraumatischer Belastungsstörung
verfasst von
Kathrin Petersdorfer
Gerd Mantl
Publikationsdatum
28.05.2025
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Psychotherapie Forum / Ausgabe 1-2/2025
Print ISSN: 0943-1950
Elektronische ISSN: 1613-7604
DOI
https://doi.org/10.1007/s00729-025-00284-4