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Ärzte Woche

21.03.2023

Atmosphäre statt Schärfe

verfasst von: Wenzel Müller

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Um 1900 war die Fotografie in Wien noch fest in der Hand einer wohlhabenden Schicht. Wie die neue Ausstellung „Piktorialismus“ in der Albertina modern zeigt, waren es nicht zuletzt Ärzte und Industrielle, die ihr einen Platz in den Tempeln der Kunst sichern wollten.


Heinrich Kühn, 1866 in Dresden geboren und später in Innsbruck wohnhaft, war promovierter Arzt, arbeitete in seinem Beruf allerdings nur kurze Zeit. Dafür gibt es zwei Gründe: einmal sein schwacher Gesundheitszustand und zum anderen das väterliche Vermögen, das ihm als Alleinerben ein recht sorgenfreies Leben bescherte. Er hatte viel freie Zeit, und die nutzte er in erster Linie dazu, mit seiner Kamera Aufnahmen zu machen. Landschaftsbilder, Stillleben, Porträts. Die Bilder wirken wie hingetupft. Atmosphäre statt Schärfe. Aufnahmen von fast halluzinatorischer Qualität. Oft standen dem Fotografen seine Kinder Modell. Dabei ging es nicht um Fotos fürs Familienalbum, sondern um sorgsame Arrangements. Die Farbe der Kinderkleidung wurde so ausgewählt, dass sich auf dem fertigen Abzug eine feine Tonwertabstufung ergab. Ganz in der Tradition der impressionistischen Malerei.

Alles wohlhabende Leute

Die Albertina modern präsentiert Heinrich Kühn als prominenten Vertreter des Piktorialismus, der um 1900 aufkommenden Kunstfotografie, die Thema ihrer aktuellen Ausstellung ist. Mitstreiter von Kühn waren etwa der Bankier Nathaniel von Rothschild und der Zuckerfabrikant Julius Strakosch. Alles wohlhabende Leute.

Heute fotografiert jeder und jede, dazu ist nicht mal mehr eine Kamera nötig, ein Handy tut es auch, nichts Besonderes also, doch vor mehr als 100 Jahren war die Fotografie schon allein aufgrund der hohen Anschaffungskosten für eine Kamera einer vermögenden Schicht vorbehalten, wie im Übrigen zur gleichen Zeit auch das Radfahren. Ärzte und Industrielle, Wissenschaftler und Adelige engagierten sich in dem 1887 gegründeten Wiener Camera-Club, spöttisch auch „Millionärsclub“ genannt. Es waren Photoamateure, die sich für die neue Technik begeisterten und deren erklärtes Ziel es war, der Fotografie einen Platz in den Tempeln der Kunst zu sichern. Dazu schufen sie Werke, die große Ähnlichkeit mit dem Tafelbild aufweisen. Das schafften sie insbesondere über ein bestimmtes Druckverfahren, den sogenannten Gummidruck. „Für die Ausarbeitung standen die Fotografen oft mehrere Tage in ihren Ateliers“, erklärt die Kuratorin der Ausstellung, Astrid Mahler. Auch fuhren diese Amateure zu Aufnahmezwecken gerne in malerische Gegenden, Geld spielte ja keine Rolle. Oder anders ausgedrückt: Diese Herren (seltener: Damen) ließen sich ihre Leidenschaft etwas kosten. 1902 konnten sie ihre Werke in der Wiener Secession ausstellen, ihr erster größerer Erfolg. Heinrich Kühn schaffte gar den Sprung über den großen Teich, zu einer Ausstellung in New York, in Stieglitz’ Galerie 291.

Die Piktorialisten vermieden nach Kräften gerade das, was allgemein als die große Stärke der Fotografie betrachtet wurde: ihre Schärfe, ihre Detailgenauigkeit. Das aufregend Neue an dem 1839 von dem französischen Maler Louis Daguerre (1787-1851) begründeten fotografischen Verfahren war, dass sie Abbilder der Wirklichkeit dauerhaft festzuhalten vermochte. Die französische Regierung erkannte das ungeheure Potenzial dieses Verfahrens und erwarb, gegen eine Leibrente an Daguerre, die Patentrechte an ihm, um es der Menschheit unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Seitdem leistet die Fotografie in ganz unterschiedlichen Bereichen, von der Kriminalistik bis zur Medizin, wertvolle Dienste. Erinnert sei nur an den Arzt und Anthropologen Rudolf Pöch (1870-1921): Er installierte den ersten Apparat für Röntgenfotografie an der medizinischen Fakultät und setzte für seine Berichte über den Verlauf der Pest in Bombay (1897) das populäre Medium Diavortrag ein. Ohne die Fotografie hätten wir heute kein Bild von der ersten Mondlandung, kein Bild vom aktuellen Krieg in der Ukraine.

Bei allen Erfolgen und Verdiensten der Lichtbildnerei, ihr haftete stets der Hautgout an, bloße Technik zu sein. Nicht der Mensch, so der Vorbehalt, sondern der Apparat schaffe die Bilder. Gerade mit dieser Sichtweise wollten die Piktorialisten brechen. Natürlich bedienten sie sich eines Apparats, doch der sei für sie nichts weiter als ein Werkzeug, vergleichbar mit dem Pinsel eines Malers. Entscheidend sei hier wie da die künstlerische Komposition.

Fotografie: Handwerk oder Kunst? Eine Auseinandersetzung, die bis heute andauert, man denke nur an den Streit darüber, ob Fotoarbeiten mit 20 oder 13 Prozent Mehrwertsteuer zu belegen sind, ob sie also als gewöhnliche Ware oder als Kunstwerke zu betrachten sind.

Auch die Ära der Piktorialisten ging einmal zu Ende. Nicht Knall auf Fall, aber allmählich. In diesem Zusammenhang ist wiederum ein Mediziner in der Albertina-Ausstellung anzuführen: Drahomír Josef Ružička, 1870 im heutigen Tschechien geboren. Er studierte in Wien Medizin und arbeitete dann als Arzt in New York. Allerdings auch als Fotograf. Zwar blieb er der Edeldrucktechnik treu, doch haben seine Bilder nichts Traumhaftes mehr. In steilen Perspektiven bildete er die Wolkenkratzer von New York ab, seine Aufnahmen der alten Pennsylvania Station sind monumentale Muster aus Licht und Schatten, zwischen Faszination und Bedrohlichkeit schwankende urbane Visionen. Die Fotografen begannen den Reiz der rauen Wirklichkeit zu entdecken. Auf den Piktorialismus folgte die „Neue Sachlichkeit“, auch das „Neue Sehen“ genannt. Man setzte nun auf Bildschärfe, ungewöhnliche Blickwinkel, abstraktes Formvokabular. Wieder etwas Anderes. Das mag eine Gesetzmäßigkeit dieses Genres zu sein: Das Auge (oder der Zeitgeist) verlangt immer wieder nach neuen Eindrücken.

Albertina modern. Piktorialismus. Die Kunstfotografie um 1900, bis 23. April 2023, www.albertina.at

Weitere Informationen:

www.albertina.at

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Metadaten
Titel
Atmosphäre statt Schärfe
Publikationsdatum
21.03.2023
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 12/2023

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