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Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie 1/2023

Open Access 23.12.2022 | Originalien

Anhaltend spannend – das zu kurze Zungenband, Teil 1

Übersicht über Entwicklungen zu Diagnostik, Behandlung und Nachsorge

verfasst von: Márta Guóth-Gumberger, Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Ausgabe 1/2023

Zusammenfassung

Die Zunge hat eine zentrale Aufgabe bei vielerlei Aufgaben. Stillen, angemessene Ernährung und altersgemäßer Gewichtsverlauf sind einige davon – und wichtige Anliegen in der Pädiatrie. Auch bei Problemen mit Essen, Aussprache, Schlucken oder Zahnstellung kann eine eingeschränkte Zungenbeweglichkeit durch ein zu kurzes Zungenband eine Rolle spielen, da dadurch die erforderlichen Lernprozesse für die Bewegung der Zunge behindert werden.
Das Wissen um die möglichen Folgen eines zu kurzen Zungenbands hat in den letzten Jahrzehnten vermehrt an Kenntnis gewonnen. Die ausgeprägte Variante des zu kurzen Zungenbands, das Frenulum linguae breve anterior (oder: zu kurzes Zungenband mit Ansatz an der Zungenspitze), ist sichtbar und wird meist behandelt; seltener die posteriore Variante, das zu kurze Zungenband mit Ansatz hinter der Zungenspitze, bei der die Zungenspitze frei ist und keine Einkerbung zeigt.
Die Auseinandersetzung mit der Anatomie der Strukturen in der Mundhöhle, mit den unterschiedlichen Möglichkeiten der Beurteilung der Funktion der Zunge und der unterschiedlichen Möglichkeiten der Frenotomie als Behandlung eines zu kurzen Zungenbands sollen die Beurteilung unterstützen, wann und bei wem eine Behandlung sinnvoll ist und wann nicht, und welche begleitenden Maßnahmen empfohlen werden sollten.
Wenn ein zu kurzes Zungenband unerkannt bleibt, wirken die zur Lösung der Symptome ergriffenen Maßnahmen oft nicht wie erwünscht. Daher ist es essenziell zu erkennen, wann eine Behandlung des zu kurzen Zungenbands sinnvoll ist, wann nicht, und wie sie mit anderen Maßnahmen verbunden werden kann, damit das Ergebnis – nämlich eine verbesserte Beweglichkeit der Zunge für die erforderlichen Funktionen – erreicht wird.
In dieser dreiteiligen Serie zum Thema zu kurzes Zungenband wird ein vertiefter Überblick über das Thema geschaffen, insbesondere über den Zusammenhang mit Stillen, Ernährung, Gewichtsverlauf, Sprache und Zahnstellung.
Dieser erste Teil befasst sich mit der Beurteilung des zu kurzen Zungenbands, mit Hinweis auf die Notwendigkeit eines multifaktoriellen Beurteilungskonzepts, das Vor- und Nachsorge sowie die Zusammenarbeit mit anderen Fachkräften und die Beschäftigung mit erstellten Fotos (und Videos) berücksichtigt.
Die Teile 2 und 3, die in den nächsten Folgen von Pädiatrie & Pädologie erscheinen, behandeln die Behandlungsmethoden des zu kurzen Zungenbands und die Problemfelder bezüglich der Behandlungsmethoden bei zu kurzem Zungenband (und Lippenband) und in der Nachbehandlung des zu kurzen Zungenbands.
Die Schritte der Beurteilung, Indikationsstellung/Diagnose und Therapie sowie die Nachsorge werden evidenzbasiert besprochen, mit dem Ziel, dass die Betroffenen und deren Familien die benötigte Hilfe kompetent und zeitgerecht erhalten.
Hinweise
Der gesamte Beitrag ist in der Ausgabe 01-2022 im März 2022 bei Laktation & Stillen erschienen, dem offiziellen Magazin der Europäischen Laktationsberaterinnen Allianz (ELACTA). In Laktation & Stillen erscheinen regelmäßig Beiträge zum Themenbereich Zungenband und Frenotomie. Über den Shop des Magazins kann ein Themenbündel aller bis April 2020 erschienenen Beiträge für 25 € erworben werden:
https://​www.​elacta-magazine.​eu/​shop/​PDF-Sammlung-Orale-Restriktionen-8-PDFs-p223295885. Die komplette Ausgabe 1‑2022 mit dem Schwerpunkt Zu kurzes Zungenband ist für 12 € ebenfalls über den Shop erhältlich: https://​www.​elacta-magazine.​eu/​shop/​Einzelhefte-c56725589

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Seit einigen Jahren wird das Thema des zu kurzen Zungenbands intensiv diskutiert. Folgender Beitrag beschreibt und kommentiert in drei Teilen die verschiedenen veröffentlichten Beurteilungsmethoden mit Evaluationsbögen zur Diagnostik und die unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten und Konzepte zur Nachsorge.
Wir, die Autorinnen, haben umfangreiche Erfahrung mit einem multifaktoriellen Beurteilungskonzept für das zu kurze Zungenband, mit Schnittfrenotomie von anterioren und posterioren zu kurzen Zungenbändern und mit einer an den Grenzen des Babys und den Möglichkeiten der Familie orientierten Nachsorge. Auch wenn dies unser vorrangiger Erfahrungshintergrund ist, geben wir einen Überblick über das gesamte Spektrum der derzeitigen Möglichkeiten und diskutieren die aktuell vorhandene Evidenz. Der Beitrag bezieht sich auf das Alter von 0 bis 6 Monaten, nicht auf das spätere Kleinkind- oder Kindesalter.
Infobox
Wir beschäftigen uns in drei Teilen mit dem Thema des zu kurzen Zungenbands, die jeweils in dieser und den nächsten Ausgaben von Pädiatrie & Pädologie erscheinen werden:
  • Teil 1: Beurteilung des zu kurzen Zungenbands
  • Teil 2: Behandlungsmethoden des zu kurzen Zungenbands
  • Teil 3: Problemfelder bezüglich der Behandlungsmethoden bei zu kurzem Zungenband, Lippenband, Nachbehandlung des zu kurzen Zungenbands

Teil 1: Beurteilung des zu kurzen Zungenbands

Für jede Beurteilung eines zu kurzen Zungenbands im ersten Lebenshalbjahr sind fundierte Kenntnisse zum Stillen und zum Gewichtsverlauf unabdingbar. Wichtige Fragen sind: Wo steht das Stillpaar überhaupt? Handelt es sich um eine durchschnittliche oder eine kritische Situation? Falls die Gewichtszunahme sehr kritisch ist, hat die Nahrungszufuhr erste Priorität, die Durchtrennung eines zu kurzen Zungenbands allein wird das Problem nicht lösen. Bei Verdacht auf ein zu kurzes Zungenband ist daher als erstes eine umfassende Einschätzung der Gesamtsituation und eine ausführliche Stillberatung durch eine Still- und Laktationsberater*in International Board Certified Lactation Consultant (IBCLC) oder eine in ähnlichem Umfang ausgebildete und qualifizierte Fachkraft erforderlich. Der Schwerpunkt der Arbeit und die Kompetenz von Stillbegleiter*innen und anderen Stillberater*innen liegt in einem anderen Bereich.

Beschreibung der Beurteilungsmethoden

Im Folgenden werden zunächst verschiedene Konzepte mit Evaluationsbögen zur Beurteilung der Zungenbeweglichkeit vorgestellt.

Screeningbogen zur Funktion des Zungenbands von Hazelbaker

Der Screeningbogen zur Funktion des Zungenbands (ATLFF, Assessment Tool for Lingual Frenulum Function; [1]) wurde von Alison Hazelbaker 1993 als Masterthesis veröffentlicht. Diese inzwischen leicht überarbeitete Pionierarbeit ist bis heute ein hilfreiches Tool. Sie ist anwendbar im Alter von 0 bis 6 Monaten, idealerweise bis 3 Monaten [2, S. 51], und umfasst 7 in einem 3‑jährigen Prozess (S. 36ff.) sorgfältig ausgewählte Kriterien zur Funktion der Zunge (Lateralisation, Anheben, Herausstrecken, Ausbreiten der Zunge, Saugschluss, Peristaltik und Zurückschnalzen) und 5 zum Erscheinungsbild der Zunge, die sich in 30 Jahren hervorragend bewährt haben. Jedes Kriterium kann von 0 bis 2 Punkten gewertet werden (auch halbe Punkte können vergeben werden). Es gilt die „best performance“, das bedeutet, dass das bestmögliche Ergebnis für das jeweilige Kriterium in die Wertung eingeht. Die differenzierten Behandlungsempfehlungen erfolgen entsprechend der Punktzahl. Für die Anwendung des ATLFF ist eine Fortbildung erforderlich. Hazelbaker bietet eine Online-Fortbildung an [3].

Bristol Tongue Assessment Tool und seine optische Variante von Ingram et al.

Eine englische Hebammenforschergruppe wählte aus dem ATLFF 2 Kriterien zur Funktion (Anheben und Herausstrecken der Zunge) und 2 Kriterien zum Erscheinungsbild (Zungenspitze und Ansatz an der unteren Zahnleiste) aus. Sie übernahm die Formulierungen des ATLFF mit minimalen Änderungen und bezeichnete dieses Hilfsmittel als BTAT (Bristol Tongue Assessment Tool; [4, S. 345]). Beim BTAT weisen 0–3 von 8 Punkten auf eine stärkere Einschränkung der Zungenbeweglichkeit hin.
Während ATLFF 12 Kriterien umfasst, gab Emond 8 Kriterien des ATLFF die Bezeichnung HATLFF-Kurzform (H für Hazelbaker; [5, S. 190]), benutzte dafür im folgenden Text sowohl HATLFF als auch HATLFF-Kurzform und gab als Quelle Amir [6, S. 5] an, die bei diesen 8 Kriterien eine höhere Interrater-Reliabilität feststellte, aber nicht den Begriff ATLFF-Kurzform verwendete. Für die Entwicklung des BTAT wählten 3 Hebammen die Kriterien aus. Anschließend beurteilten 2 Fachkräfte für kindliche Ernährung und 8 Hebammen, die routinemäßig zu kurze Zungenbänder diagnostizieren und durchtrennen, 126 Babys mit dem BTAT und mit der ATLFF-Kurzform („ATLFF [short form]“; [4, S. 345]), die im Text sowohl mit ATLFF als auch mit ATLFF-Kurzform bezeichnet wird. Im „abstract“ wird vorgeschlagen, dass das einfachere BTAT das ausführlichere ATLFF ersetzen kann und es wird das BTAT als Hilfsmittel für die Auswahl der Babys für Frenotomie bezeichnet; im Text wird vorsichtiger weitere Forschung gefordert.
TABBY ist die optische Variante von BTAT; vereinfachte Zeichnungen stellen die Kriterien dar [7]. Zusätzlich zum TABBY wird der Einsatz eines Stillevaluationsbogens gefordert, der eine Momentaufnahme des Stillens, nicht den Verlauf, erfasst.

Neonatal Tongue Screening Test und Lingual Frenulum Protocol with Scores for Infants von Martinelli und Marchesan

Martinelli und Marchesan entwickelten 2 Protokolle. Der Neonatal Tongue Screening Test (NTST) ist ein Bogen für Neugeborene mit klinischen Fotos [8]. Das Lingual Frenulum Protocol with Scores for Infants (LFPI) für Babys bis 6 Monate besteht aus einem Anamnesebogen und einem Teil mit klinischen Fotos des Munds und der Zunge [9]. Bei beiden werden Punkte vergeben, 0 Punkte für die normale Funktion.

Frenotomy Decision Tool/Rule for Breastfeeding Dyads von Dobrich

Dobrich stellte das Frenotomy Decision Tool/Rule for Breastfeeding Dyads (FDTBD/FDRBD) zusammen [10, 11]. In einem Fragebogen mit Anleitung werden Angaben zu Stillen, Zungenfunktion und Lippenband mit 0 oder 1 Punkt bewertet. Die gerade noch akzeptable Gewichtszunahme ab dem 5. Lebenstag bis 3 Monate wird im FDTBD mit 20 g/Tag (d. h. 140 g/Woche) angegeben und liegt deutlich unter der Gewichtszunahme für altersgemäßes Wachstum nach den WHO-Standards (mindestens 25 g/Tag, d. h. etwa 170 g/Woche). Die Gewichtskurve eines Babys mit einer solchen Gewichtszunahme (20 g/Tag) kreuzt in den Perzentilen deutlich nach unten.

Multifaktorielles Beurteilungskonzept mit Zungenband-TOOL, Screeningbogen zur Funktion des Zungenbands, Gewichtskurve von Guóth-Gumberger und Karall

Die bisher beschriebenen Evaluationsbögen haben zum Ziel, die Beurteilung der eingeschränkten Zungenbeweglichkeit zu standardisieren und so weit wie möglich zu vereinfachen. Unsere Einschätzung ist, dass dies bei den klaren und eindeutigen Fällen möglich ist (Abb. 1), nicht jedoch in komplexen Gesamtsituationen (Abb. 2). Diese können durch ein vereinfachtes Beurteilungsschema nicht umfassend und differenziert beurteilt werden.
Deswegen arbeiten wir mit einem multifaktoriellen Beurteilungskonzept [12], das folgendes einbezieht:
  • Stillen
  • Mamillen und Brust
  • Gewichtsverlauf
  • Milchbildung
  • Zufütterung
  • Trinkverhalten an der Flasche (falls verwendet)
  • Essen
  • Verhalten des Babys
  • Zungenbeweglichkeit (ATLFF von Hazelbaker, Fotos, Videos, eventuell digitale Untersuchung)
  • Weitere Hinweise für eine eingeschränkte Zungenbeweglichkeit
  • Soziale Aspekte
Zur Dokumentation des multifaktoriellen Beurteilungskonzepts verwenden wir neben dem ATLFF das Formular Zungenband-TOOL Baby [13] Abb. 3. Es enthält eine sehr umfassende Fragenliste nach möglichen Symptomen bei einer eingeschränkten Zungenbeweglichkeit. Die Antworten mit Ja und Nein können in 2 Spalten oder in der Mitte dazwischen eingekreist werden, die linke enthält die Hinweise auf eine Einschränkung, die rechte bestätigt eine normale Funktion. Es ist möglich, Zutreffendes zu unterstreichen, sehr auffällige Beobachtungen herauszuheben und im Fall einer Weiterverweisung das ausgefüllte Formular zusammen mit einer kurzen Zusammenfassung der Gesamtsituation an den Behandler, die Behandlerin zu schicken. Nach einer eventuellen Behandlung können veränderte Befunde in einer anderen Farbe eingetragen werden.
Im Zungenband-TOOL werden keine Punkte vergeben. Damit ist dieses Hilfsmittel kein Screening-, sondern ein Dokumentationstool, mit dem so umfassend wie möglich die Einflussfaktoren auf einer A4-Seite systematisch erfasst werden können. Somit dient es als differenzierte Entscheidungsgrundlage, ob empfohlen werden sollte, das Baby bei einem Behandler oder einer Behandlerin vorzustellen oder nicht, die dann als zweite Meinung die Diagnose stellt und gegebenenfalls behandelt. Wir sind der Meinung, dass nur bei offensichtlich eindeutig zu kurzen Zungenbändern eine Behandlungsempfehlung allein durch die Punktzahl entschieden werden kann. Für die Vielzahl der weniger klaren oder grenzwertigen Situationen legt das multifaktorielle Beurteilungskonzept bewusst den Schwerpunkt auf eine sehr gründliche und umfassende Evaluation der Gesamtsituation und eine individuelle Entscheidung für jedes Baby.
Die Beurteilung durch ATLFF und Zungenband-TOOL Baby wird vervollständigt durch die Gewichtskurve des Babys. Für relevante Ereignisse sind Legenden zur Gewichtskurve wie bei Darstellung mit der Dokumentationssoftware STILLDOK [14] essenziell. Dabei beobachteten wir im Lauf der etwa 10 letzten Jahre, dass die typischen Gewichtskurven bei einem zu kurzen Zungenband in 4 Varianten eingeteilt werden können (Abb. 4).
Einige Autoren beschreiben ebenfalls die Notwendigkeit, bei der Frenotomieentscheidung viele Faktoren zu berücksichtigen [1519]. Im Vergleich zu diesen Beiträgen und zu den beschriebenen Evaluationsbögen bezieht das multifaktorielle Beurteilungskonzept als einziges eine differenzierte Beurteilung des vollständigen Gewichtsverlaufs mit ein [20, 21].
Ein einzelner Hinweis, eine einzelne Auffälligkeit ist keine Entscheidungsgrundlage oder Diagnose und bedeutet nicht automatisch, dass eine Frenotomie durchgeführt werden sollte. Umgekehrt schließt eine einzige normale Funktion nicht automatisch ein zu kurzes Zungenband aus und die Erfahrung ist, dass kein Kind mit einer eingeschränkten Zungenbeweglichkeit alle Symptome zeigt. Jede Form und Varianz kann, muss aber nicht auftreten – sei es bei ATLFF, Zungenband-TOOL oder Gewichtsverlauf.
Mit dem Zungenband-TOOL kann eine komplexe oder auch grenzwertige Situation sehr flexibel erfasst werden. Stillberatung mit Einschätzung der Gesamtsituation und entsprechenden Maßnahmen ist immer vorrangig; je nach Eindeutigkeit der Situation wird empfohlen, das Baby sofort für Diagnose und Behandlung vorzustellen oder zuerst einen Kontrolltermin abzuwarten und neu einzuschätzen (s. Flussdiagramm in Abb. 5).

Vorab-Screening Zungenband

Es ist sinnvoll, dass sich einige IBCLC und andere Fachkräfte intensiv mit dem Thema Zungenband beschäftigen und Erfahrung mit der zeitintensiven multifaktoriellen Beurteilung der eingeschränkten Zungenbeweglichkeit sammeln. Das ist zeitlich nicht für alle Fachkräfte, die mit Babys zu tun haben, möglich oder sinnvoll. Da es jedoch wichtig ist, dass bei Verdacht Babys frühzeitig genau beurteilt werden, entwickelten wir in Zusammenarbeit mit 2 weiteren Still- und Laktationsberaterinnen IBCLC das Vorab-Screening Zungenband für das Wochenbett [22] und für Baby und Kind ([23], s. Handouts auf S. 27 und S. 29) für alle Berufsgruppen, Stillbegleiter*innen und Stillberater*innen mit unterschiedlichem Hintergrund. Mit dem Vorab-Screening kann die Gesamtsituation in wenigen Minuten erfasst werden. Wenn ein anterior zu kurzes Zungenband vorliegt, sollte dieses möglichst sofort und möglichst tief durchtrennt werden, und danach zur Kontrolle an eine erfahrene Fachkraft verwiesen werden, da manchmal eine weitere Frenotomie erforderlich ist. Wenn Hinweise auf ein posterior eventuell zu kurzes Zungenband vorliegen, ist an eine erfahrene Fachkraft zu verweisen. Nach der Frenotomie ist immer eine intensive Begleitung/Stillberatung erforderlich. Das Vorab-Screening kann farbig laminiert für Praxis, Ambulanz, Hausbesuch, Station, Telefonberatung usw. verwendet werden, der Schwarz-Weiß-Druck ist für die Dokumentation für einzelne Babys geeignet. Rückmeldungen an die Autorinnen sind willkommen, ob das Vorab-Screening korrekt zeigt, wann eine Überweisung erforderlich ist.

Diskussion der Beurteilungsmethoden

Validität ist erreicht, wenn sichergestellt wird, dass das inhaltliche Phänomen, um das es geht, genau erfasst wird, hier das Vorhandensein eines zu kurzen Zungenbands und die langfristig positive Auswirkung der Frenotomieentscheidung. Verschiedene Beurteilungsbögen beanspruchen Validität für ihr eigenes Konzept [4, 8, 24, S. 130] – Hazelbaker zitiert dabei 3 Quellen [2, 6, 25].
In der Masterarbeit von Hazelbaker wurden 56 Babys mit dem ATLFF untersucht; 4 hatten eine Punktzahl, die nach Verbesserung der Stilltechniken zur Frenotomieempfehlung führte. Bei einem der 4 Babys mit Frenotomieempfehlung wurde keine Frenotomie durchgeführt, wegen der Schmerzen der Mutter kam es zu baldigem Abstillen. Bei den anderen 3 Babys wurde nach Frenotomie und Behandlung verschiedener Stillhindernisse das Stillproblem überwunden und sie wurden im Alter von 1,5, 3 bzw. 4 Monaten weiterhin ausschließlich gestillt [2, S. 75f., 78]. Wissenschaftliche Tests für Validität, Test‑/Retest-Reliabilität und Interrater-Reliabilität waren für spätere Untersuchungen vorgesehen (S. 80).
Amir [6] bestätigt die Interrater-Reliabilität des ATLFF für die Frenotomieempfehlung (96 %). Die Interrater-Reliabilität ist nur ein Teil der Validität. Ballard et al. untersuchten 3036 Babys mit Stillproblemen mithilfe des ATLFF [25]. Bei den 123 Kindern nach Frenotomie verbesserte sich der Zustand bezüglich Schmerz der Mutter auf einer Skala von 1 bis 10 und die Qualität des Andockens anhand der Angaben der Mutter. Als Limitation ihrer Studie geben sie an, dass es keine Kontrollgruppe ohne Frenotomie und kein langfristiges Nachverfolgen des Stillens gab.
Zum BTAT wird die Aussage gemacht, dass es eine starke und signifikante Korrelation mit dem ATLFF hat und deswegen als einfacherer Ersatz für das ATLFF benutzt werden könnte [4, S. 346]. Diese Aussage ist durch die Studie nicht belegt, weil das BTAT nicht mit dem vollständigen ATLFF, sondern mit der ATLFF-Kurzform verglichen wurde. Dies kann nicht als Validierung gelten und lässt keine Aussage darüber zu, ob die Beurteilung mit dem BTAT behandlungsbedürftige, zu kurze Zungenbänder zutreffend eingrenzt.
Erwartungsgemäß korreliert TABBY, die Bildversion des BTAT, mit BTAT, weil Gleiches auf 2 verschiedene Weisen beschrieben wurde. Das für BTAT Gesagte gilt ebenfalls für TABBY.
Für die Validierung des LFPI wurden 100 Babys 48 h nach der Geburt, mit 30 Tagen und 30 Tage nach einer eventuellen Frenotomie untersucht; 21 % hatten eine eingeschränkte Zungenbeweglichkeit, davon wurden 10 vor der Frenotomie und 16 nach der Frenotomie ausschließlich gestillt [8]. Die Validierung basiert also auf 6 Babys, die durch die Anwendung des LFPI und anschließender Frenotomie vom Teilstillen oder Nichtstillen zum Stillen zurückkehren konnten. Die Gewichtsentwicklung wurde nicht erfasst.
Bislang liegen keine Studien zur Validität von FDTBD vor [10].
Die Validierung der verschiedenen Hilfsmittel zur Beurteilung des zu kurzen Zungenbands ist demnach nicht ausreichend und überzeugend. Die Kontroverse bezüglich des zu kurzen Zungenbands ist vor diesem Hintergrund nicht erstaunlich. Aufgrund der Situation der stillenden Mütter und ihrer Babys ist es jedoch unserer Ansicht nach meist nicht vertretbar, auf eine Behandlung zu verzichten, bis validierte Einschätzungsinstrumente vorliegen.
Was erfassen die verschiedenen Beurteilungsbögen? In Abb. 6 wurden die Kriterien, die die einzelnen Beurteilungsbögen erfassen, im Zungenband-TOOL grün unterlegt. Daraus wird ersichtlich, dass jedes diagnostische Tool unterschiedliche Kriterien erfasst.
ATLFF, LFPI und FDTBD liefern sicherlich klare Ergebnisse bei offensichtlich eindeutigen Fällen. Problematisch ist es, wenn BTAT allein [4, S. 344] oder TABBY zusammen mit einem Stillevaluationstool ohne Gewichtsverlauf [7, S. 5] als Entscheidungskriterium für eine Frenotomie verwendet werden, da sie nur 2 Funktionskriterien berücksichtigen. Ingram selbst stellt klar, dass TABBY als initiale Einschätzung in Wochenbettstation oder Stillambulanz konzipiert ist, während ATLFF für die umfassendere Beurteilung durch spezialisierte Fachkräfte oder IBCLC in freier Praxis geeignet ist [7, S. 5].
Bei den komplexen und grenzwertigen Fällen vertreten wir die Meinung, dass es notwendig ist, den Gewichtsverlauf, die Zufütterung, die Gesamtsituation und weitere Kriterien einzubeziehen und individuell zu entscheiden und zu begleiten.
Das multifaktorielle Beurteilungskonzept mit Dokumentation mit dem Zungenband-TOOL, der Gewichtskurve und ergänzt mit dem ATLFF ist ein beschreibendes Konzept für individuelle Entscheidungen ohne Punkteergebnis. Daher ist eine Validierung des Konzepts über Punktvergabe nicht möglich. Das Vorab-Screening wird begleitend validiert.
In Teil 1 dieses Beitrags wurde die Beurteilung des zu kurzen Zungenbands besprochen. In den Teilen 2 und 3 in den nächsten Ausgaben folgen die Besprechung der unterschiedlichen Behandlungsmethoden und der Problemfelder bezüglich der Behandlungsmethoden. Weitere Themen sind Lippenband und Nachbehandlung des zu kurzen Zungenbands.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

M. Guóth-Gumberger und D. Karall geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
2.
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Metadaten
Titel
Anhaltend spannend – das zu kurze Zungenband, Teil 1
Übersicht über Entwicklungen zu Diagnostik, Behandlung und Nachsorge
verfasst von
Márta Guóth-Gumberger
Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall
Publikationsdatum
23.12.2022
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie / Ausgabe 1/2023
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-022-01029-1

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