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Ärzte Woche

17.01.2020 | Allgemeinmedizin

Pornografie

Lust, die aus dem Ruder läuft

verfasst von: Uwe Hartmann

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Immer mehr Männer suchen professionelle Hilfe, weil ihr exzessiver Pornografiekonsum oder ihr Sexualverhalten zu Lust- und Orgasmusproblemen führen.

Etwa ein Drittel des Datenverkehrs im Internet geht auf den Konsum pornografischer Inhalte zurück und Deutschland ist dabei mit einem Anteil von zwölf Prozent weltweit Spitzenreiter. Die Online-Pornografie ist durch die in den Industrieländern verfügbaren Breitbandverbindungen einfach, oft kostenfrei und in einer nie da gewesenen Vielfalt verfügbar. Gleichzeitig erhöht sich die Anzahl der Männer, die sich mit der Selbstdiagnose „Sexsucht“ hilfesuchend an ihren Arzt wenden, häufig dann, wenn das verheimlichte Verhalten durch den Partner bzw. am Arbeitsplatz entdeckt wurde oder andere schwerwiegende negative Konsequenzen eingetreten sind.

Wenngleich der Krankheitswert dieser Problematik nach wie vor ebenso umstritten ist wie ihre nosologische und klassifikatorische Zuordnung, wird in der ICD-11 in der Klasse der Impulskontrollstörungen mit der Kategorie „Zwanghaftes Sexualverhalten“ (Compulsive sexual behavior disorder) erstmals ein spezieller Diagnoseschlüssel für diese Symptomatik eingeführt. Zentrales Charakteristikum ist ein anhaltendes Versagen, intensive, wiederkehrende sexuelle Impulse oder Drangzustände zu kontrollieren, was zu wiederkehrenden sexuellen Verhaltensweisen (über eine Dauer von mindestens sechs Monaten) führt, die zu ausgeprägtem Leidensdruck und Beeinträchtigungen in wichtigen Lebensbereichen führen.

Die wichtigsten Verhaltensmerkmale sind:

  • ein deutlich erhöhter Zeitbedarf  für die Beschäftigung mit sexuellen Impulsen und Verhaltensweisen,
  • die Vernachlässigung anderer Interessen, Aktivitäten und Verantwortlichkeiten,
  • der Einsatz exzessiven Sexualverhaltens als Reaktion auf negative Gefühle und belastende Lebensereignisse sowie
  • erfolglose Versuche, das trotz negativer Konsequenzen und geringer Befriedigung fortgeführte Verhalten zu kontrollieren.

Probleme in der Partnerschaft

Die bedeutsamsten negativen Auswirkungen hypersexuellen Verhaltens betreffen die Partnerschaft und die sozialen Kontakte. Beide Bereiche werden vor allem von einem exzessiven Pornografiekonsum geschädigt, zu dessen Auswirkungen es neue wissenschaftliche Ergebnisse gibt, die die Frage aufwerfen, ob die Auswirkungen des Online-Pornografiekonsums kritischer zu sehen sind.

So werden Heranwachsende immer früher mit Pornografie konfrontiert, in Entwicklungsphasen, in denen sich die grundlegenden Muster des späteren sexuellen Verhaltens und Erlebens herausbilden. Bei Männern, die sich als „pornografiesüchtig“ einordnen, kommt es vermehrt zu einer Konditionierung der sexuellen Erregung auf pornografische Stimuli, gegen deren Reiz der real gelebte Sex früher oder später chancenlos ist. Die Folgen können vermehrte Lust- und Orgasmusprobleme sein.

Bildgebungsstudien haben Hinweise darauf erbracht, dass ein erhöhter Porno-Konsum zu einer Down-Regulation bzw. zu einem „Ausleiern“ des Belohnungssystems führen kann sowie – ähnlich wie bei anderen Suchtstörungen – zu einer Dopamin-Dysregulation. Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass für einen leichten bis moderaten Pornografie-Konsum keine negativen Effekte gesichert sind und viele Menschen Pornografie konsumieren, ohne dass dies zu negativen psychosozialen Folgen führt.

Diagnostik und Therapie

Zur diagnostischen Abklärung können die folgenden vier Screeningfragen verwendet werden:

  • Hatten Sie jemals wiederkehrende  Schwierigkeiten, Ihr sexuelles Verhalten zu kontrollieren?
  • Hatte Ihr sexuelles Verhalten negative Konsequenzen (juristische, in der Partnerschaft, im Beruf, medizinisch, etwa sexuell übertragbare Krankheiten)?
  • Gab es Versuche, das Verhalten zu verheimlichen und/ oder Schamgefühle?
  • Hatten Sie jemals das Gefühl, zu viel Zeit mit sexuellen Aktivitäten zu verbringen?

In Anbetracht der Heterogenität der Problemkonstellationen empfiehlt sich ein multimodaler Ansatz, der verschiedene psychotherapeutische Elemente sowie pharmakotherapeutische Optionen beinhaltet. Die Therapieprogramme bestehen in der Regel aus einer Kombination von Strategien zur Kontrolle bzw. Regulation des hypersexuellen Verhaltens und der Bearbeitung von tiefer verwurzelten Faktoren, die das Verhalten verursacht haben oder aktuell aufrecht erhalten. In vielen Fällen geht es dabei um die beiden Kernthemen Intimitätsdefizite und fehlender Zugang zu den eigenen Gefühlen.

Ohne eine verbesserte Selbstregulation und eine deutliche Reduzierung des sexuellen Verhaltens ist eine erfolgreiche Behandlung nicht möglich. Optimal ist es, mit den Patienten eine „Pause“ bezüglich Pornokonsum und anderen Verhaltensweisen zu vereinbaren. Wichtig ist dabei, dass weder sexuelle Partnerkontakte noch Masturbation in dieser Zeit „verboten“ sind, Letztere sollte jedoch nicht in Verbindung mit Pornokonsum oder anderen artifiziellen Reizen (Chatrooms, Telefonsex, Datingseiten etc.) erfolgen.

Bei besonders exzessivem und selbstschädigendem Verhalten kann zur Unterstützung der Verhaltenskontrolle eine Pharmakotherapie indiziert sein. Das übliche Therapieschema beginnt mit Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, die affektmodulierend und steuerungsverbessernd wirken, geht dann über den Einsatz von Mood-Stabilizern bzw. Antiepileptika bis hin zu Antiandrogenen, wenn eine eindeutige Fremd- oder Selbstgefährdung vorliegt. In Partnerschaften, die durch die Aufdeckung von verheimlichten exzessiven sexuellen Verhaltensweisen oft sehr belastet sind, geht es primär darum, das Vertrauen wieder herzustellen und die Intimität zu verbessern.

Fazit für die Praxis

Probleme mit der Regulation und Kontrolle sexuellen Verhaltens sind häufig und die massenhafte Verfügbarkeit der Internet-Pornografie hat zu einer neuen Dimension dieser Verhaltensmuster geführt. In der ICD-11 wird mit der Kategorie „Zwanghaftes Sexualverhalten“ erstmals ein spezieller Diagnoseschlüssel für diese Symptomatik eingeführt. Die häufigsten negativen Konsequenzen hypersexuellen Verhaltens sind partnerschaftliche und berufliche Probleme sowie sozialer Rückzug.

In der Praxis sollte die Selbstdiagnose des Patienten durch Screeningfragen, Fragebögen und eine Sexualanamnese verifiziert werden. Das therapeutische Vorgehen besteht in multimodalen Ansätzen mit den Schwerpunkten auf der Verbesserung der Verhaltenssteuerung, der Wahrnehmung und Regulation von Gefühlen und der Beziehungsfähigkeit.

Wichtig ist, dass der Leidensdruck der Ratsuchenden ernst genommen wird und der Arzt sich als Ansprechpartner zur Verfügung stellt. Er kann so mit seinen Mitteln und seiner Erfahrung den Patienten helfen, die Spirale aus exzessivem Verhalten und Selbstverachtung zu durchbrechen. Ebenso wichtig wie der Erwerb sexualtherapeutischer Kompetenzen ist dabei die Einstellung, dass diese Probleme ernst zu nehmen sind und die Patienten es verdienen, dass die gegen sie oft bestehende Abwehrhaltung aufgegeben wird.

Der Beitrag von Prof. Dr. Uwe Hartmann, Sexualmedizinisches Kompetenzzentrum Hannover, wurde erstmals in der Kongressausgabe der „Ärzte Zeitung“ zum DGU-Kongress 2019 in Hamburg veröffentlicht.

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Metadaten
Titel
Pornografie
Lust, die aus dem Ruder läuft
Publikationsdatum
17.01.2020
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 4/2020

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