Psychiatr Prax 2004; 31(6): 320
DOI: 10.1055/s-2004-832269
Buchhinweise

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Stellen Sie sich vor, Sie sind gesund ...

Further Information

Publication History

Publication Date:
25 August 2004 (online)

 

Es ist kein Zufall, dass das Thema der Medikalisierung unseres Leben plötzlich in aller Munde ist: Eine Spiegel-Titelgeschichte, Beiträge in der NZZ, der Weltwoche, in Fakts und an vielen anderen Orten; drei Bücher, die fast gleichzeitig erschienen sind. Weniger im Blickpunkt der Öffentlichkeit Fachtagungen von Chirurgen, Internisten, Psychiatern. In der Tat ist es höchste Zeit, dass wir unseren kritischen Blick auf die immer verschwommeneren Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit richten und uns auf Grenzen unserer Zuständigkeit verständigen: Nicht jede Störung unserer Befindlichkeit, unseres "vollkommenen Körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens" - so die Gesundheitsdefinition der WHO - ist eine behandlungsbedürftige Krankheit. Und für die sind wir immer noch in erster Linie zuständig.

In einer Zeit, in der der Gesetzgeber die Gesundheit reformiert, Krankenkassen zu Gesundheitskassen werden und Krankenhäuser zu Gesundheitszentren, ist es Zeit, dass wir uns daran erinnern. Die Lifestylemedizin als eine Variante des Strebens nach vollkommenen Wohlbefindens und Glück bindet längst einen beträchtlichen - einen zu großen - Teil der Ressourcen unseres Gesundheitswesens, die unerträgliche Ausweitung des diagnostischen Spektrums bei Befindlichkeitsstörungen und Lebensführungsproblemen einen anderen. Und dass es mächtige Interessengruppen gibt, die uns weiß machen wollen, das sei in Ordnung so, weckt Zweifel an der Reformfähigkeit des Systems.

Das ist das eigentliche Thema von Jörg Blechs Buch "Die Krankheitserfinder", dessen Kurzversion als Spiegeltitelgeschichte für erhebliche Irritation in Medizinerkreisen gesorgt hatte, für mich bemerkenswerterweise vor allem in den Führungszirkeln psychiatrischer Standesvertreter. Dabei dürften sie die Waisenknaben des Systems seien. Blechs zentrale These, Industrie, Ärzte und andere Verbände im Gesundheitswesen wirkten gemeinsam grenzverschiebend zwischen Krankheit und Gesundheit und machten uns alle zu Patienten, hat gewiss etwas für sich. Aber es greift meines Erachtens zu kurz, wenn er vor allem die zu große Nähe zwischen Ärzten und Pharmaindustrie dafür verantwortlich macht. Gewiss gibt es die; aber sie wird getragen von einem allumfassenden Jahrmarkt der Eitelkeiten und einer mittlerweile fatalen milliardenschweren, kaum mehr kontrollierbaren Gesundheits- und Krankheitsmarktes in Klinik, Forschung; Industrie und - nicht zu vergessen - Medien, aber letzten Endes auch den Heilserwartungen der Kranken.

Bei der Lektüre kommt, je nach Einstellung, Schadenfreude oder Wut auf. Aber genau das ist der Mangel des Buches. Es verharrt in vieler Hinsicht an der Oberfläche. Die soziologische Perspektive kommt zu kurz: die Analyse der kulturellen und gesellschaftlichen Hintergründe der Medikalisierung unseres Lebens, die nur in einer Überflussgesellschaft möglich ist und die angesichts des eklatanten medizinischen Mangels in neun Zehnteln unserer Welt umso schändlicher ist.

Dennoch lohnt es, das Buch zu lesen. Es bringt viele Fakten und Daten und regt zum intensiven Nachdenken auch da an, wo man anderer Meinung ist als Jörg Blech.

    >