Psychiatr Prax 2010; 37(3): 108-110
DOI: 10.1055/s-0029-1223521
Debatte: Pro & Kontra

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Primat der ambulanten Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung

Primacy of Out-Patient Treatment of Borderline Personality DisorderPro: Hans  Guina Kontra: Martin  Bohus, Thorsten  Kienast
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Publication Date:
25 March 2010 (online)

Pro

Die Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen (BPS) gilt als sehr schwierig. Die Prävalenz der BPS wird in den USA mit 1–1,8 % angegeben. Auffallend ist eine hohe Suizidrate von 5–10 % innerhalb von 15 Jahren und eine Selbstverletzungsrate von 69–80 % (zusammenfassend etwa Jerschke et al. [1]).

Jerschke et al. [1] fanden in ihrer Stichprobe häufige Therapieabbrüche (47,4 %) und Zwangseinweisungen (20,7 %). Aufgrund häufiger und langer Klinikaufenthalte schätzen Jerschke et al. die Kosten pro Jahr und Patient auf 12 000 € (bezogen auf die letzten beiden Jahre vor Aufnahme auf einer speziellen DBT-Station an der Universitätsklinik Freiburg). Bei BPS verursacht eine relativ kleine Gruppe (1–1,5 %) relativ hohe Kosten durch Therapieabbrüche, häufige Klinikaufenthalte, disziplinarische Entlassungen, akute Behandlungsmaßnahmen usw.

Schon aus dieser Kurzübersicht ist ablesbar, dass Borderline-Patientinnen zu den sog. „Drehtürpatienten” gehören und stationäre Settings häufig nutzen.

Die Nachteile stationärer Behandlungen sind meiner Ansicht nach dabei folgende:

Zu Beginn einer stationären Behandlung wird oft eine Klärung des Behandlungsziels vernachlässigt. Die Patienten werden ohne klar erkennbaren oder mit diffusem Auftrag behandelt. Das führt dazu, dass die Kriterien für eine Beendigung der Behandlung nicht operationalisiert sind und dass die Patienten nach der Krisenintervention weiter behandelt werden. Behandler haben dabei nicht selten Kognitionen wie: „Die Patientin bleibt im Krankenhaus, bis sie gesund ist.” Abgesehen davon, dass dieser Anspruch uneinlösbar ist, tragen solche Kognitionen zur Hospitalisierung der Patientinnen bei. Stationäre Settings sind dazu prädisponiert, dysfunktionales Verhalten im lerntheoretischen Sinn zu verstärken. Das heißt, Ärzte, Psychologen und Pflege reagieren auf selbstverletzendes Verhalten häufig mit zusätzlichen Gesprächsangeboten und verstärken so dysfunktionales Verhalten unabsichtlich. In einer Supervision reagierte ich deshalb ziemlich verblüfft, als ein Pfleger beiläufig fragte, ob es denn in Ordnung sei, dass sich eine Borderline-Patientin, eine Stunde nachdem sie sich geschnitten hatte, mit ihrem Notebook eine Pizza bestellte. Borderline-Patientinnen konkurrieren in stationären Settings nicht selten um Zuwendung, indem sie versuchen, sich in der Quantität und Qualität ihrer Selbstverletzungen zu überbieten, was dann wiederum durch Zuwendung (s. o.) verstärkt wird. Gelegentlich schauen sich Borderline-Patientinnen bei Mitpatientinnen „neues” selbstverletzendes Verhalten ab. Den Borderline-Patientinnen wird in stationären Settings häufig zu viel Verantwortung abgenommen. Es wird unterschätzt, dass diese Patienten schon eine längere Krankheitsgeschichte hinter sich haben und wahrscheinlich eine genauso lange noch vor sich, dass Patientinnen – obwohl ursächlich nicht „schuld an ihrer Misere” – doch die Einzigen sind, die ihre Probleme lösen können. Da die Borderline-Patientinnen aus ihrem Lebensumfeld herausgenommen werden, können gelernte neue Verhaltensweisen nicht oder nur ungenügend den Alltag generalisieren. Es wird häufig vergessen, dass ein stationärer Aufenthalt auch eine Variante einer „Beziehung” darstellt und dass Patientinnen kurz vor Abschluss der Behandlung deshalb nicht selten Angst „vor dem Alleinsein” haben und erneut dysfunktionales Verhalten zeigen. Ein optimaler Entlasszeitpunkt wird aus Angst oder Sorge der Behandler deshalb häufig verpasst und die Patientinnen werden länger im Krankenhaus belassen als es notwendig und sinnvoll wäre.

Auf der anderen Seite konnten wir in unserem ambulanten Darmstädter Netzwerk, das seit 1997 besteht und Borderline-Patientinnen mit der dialektisch behavioralen Therapie (DBT) behandelt, zeigen, dass man Borderline-Patientinnen sehr gut ambulant behandeln kann [2] [3] [4]. In einer eigenen Untersuchung [3] fanden wir innerhalb eines Jahres in einer Stichprobe von 33 Patienten eine Einjahresabbrecherquote von nur 12 %. In der gleichen Stichprobe reduzierte sich die Anzahl der Patienten mit Suizidversuchen von 36 auf 6 %. Die Anzahl der Patienten, die sich selbst verletzten, reduzierte sich innerhalb eines Jahres von 79 auf 48 %. Die Anzahl der Patientinnen, die sich mindestens einmal wöchentlich verletzten, ging von 27 auf 4 % zurück. Nach einem Jahr ambulante DBT zeigte sich ein durchschnittlicher Rückgang der Dauer der stationären Aufenthalte von 2,57 auf 0,35 Wochen. Bei einem angenommenen Tagessatz von 351€, überschlagen auf die 33 Patienten und gegengerechnet mit den Kosten, die für die ambulante Therapie mit DBT zu veranschlagen sind, ergibt sich pro Patient und Jahr eine durchschnittliche Ersparnis von 1566,42 € zugunsten der ambulanten Therapie.

Fairerweise muss man natürlich einräumen, dass es in der Bundesrepublik bislang leider nur einige wenige ambulante Netzwerke gibt, die sich die Behandlung von Patientinnen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu ihrer Aufgabe machen und dass es demgegenüber viele auf BPS spezialisierte Stationen gibt, die diese Patientinnen mit der dialektisch behavioralen Therapie (DBT) behandeln. Für diese Spezialstationen gelten, da deren Teams sehr gut ausgebildet sind, die o. g. Nachteile in weit geringerem Ausmaß. Einschränkend muss man weiterhin sagen, dass es natürlich sinnvoll ist, für bestimmte Komorbiditäten spezialisierte stationäre Behandlungsangebote bereitzuhalten, bspw. BPS und schwere Abhängigkeitssymptome, BPS und schwere Essstörungen, BPS und Posttraumatische Belastungsstörungen, BPS und schwere dissoziative Symptome.

Die DBT als eine Therapie im Team mit sorgfältig aufeinanderabgestimmter Einzel- und Gruppentherapie passt hervorragend zu modernen Behandlungsstrukturen wie Integrierte Versorgung oder Medizinische Versorgungszentren und scheint deshalb das Mittel der Wahl als Methode für ambulante Borderline-Therapie zu sein. Unsere Erfahrungen zeigen, dass DBT im bundesrepublikanischen Versorgungssystem durchaus ambulant von Niedergelassenen angeboten werden kann. Die ambulante Versorgung ist möglich und ist gegenüber der stationären kostengünstiger. Der Gewinn für die teilnehmenden Therapeuten liegt darin, dass die Behandlung „schwieriger Patienten” durch Entlastung im Team und durch strukturierte Behandlungskonzepte, im Vergleich zur Behandlung anderer Störungen, als nicht belastender erlebt wird [2]. Die Arbeit im Team und die Arbeit in und mit modernen Behandlungskonzepten bereichert die Arbeit ambulant arbeitender Psychotherapeuten. Der Gewinn für die Patientinnen liegt in der wohnortnahen Versorgung und darin, dass sie die neu erworbenen Fertigkeiten direkt vor Ort in der gewohnten Umgebung ausprobieren können. Der Gewinn für die Kostenträger liegt in einer kostengünstigen Versorgung, der ansonsten „sehr teuren” Borderline-Patientinnen. Eine Hospitalisierung und Behandlungsabhängigkeit wird verhindert.

Es bleibt zu hoffen, dass sich in der Bundesrepublik Deutschland in den nächsten Jahren weitere ambulante Netze gründen und damit stationäre Behandlungen überflüssig machen.

Literatur

  • 1 Jerschke S, Meixner K, Richter H. et al . Zur Behandlungsgeschichte und Versorgungssituation von Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Bundesrepublik Deutschland.  Fortschr Neurol Psychiatr. 1998;  12 219-229
  • 2 Gunia H, Huppertz M, Friedrich J. et al . Dialektisch Behaviorale Therapie von Borderline-Persönlichkeitsstörungen in einem ambulanten Netzwerk.  Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis. 2000;  32 651-662
  • 3 Gunia H, Friedrich J, Huppertz M. Evaluation eines ambulanten DBT-Netzwerks – Erste Ergebnisse. In: Merod R, Hrsg Behandlung von Persönlichkeitsstörungen – Integration. Tübingen; dgvt-Verlag 2005: 523-547
  • 4 Friedrich J, Guina H, Huppertz M. Evaluation eines ambulanten Netzwerks für Dialektisch Behaviorale Therapie.  Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin. 2003;  24 289-306
  • 5 Bohus M. Zur Versorgungssituation von Borderline-Patienten in Deutschland.  Persönlichkeitsstörungen Theorie und Therapie. 2007;  11 149-153
  • 6 Jacob G A, Allemann R, Schornstein K. et al . Zum gegenwärtigen Stand der stationären Behandlung von Borderline-Patienten in Deutschland.  Psychiat Prax. 2009;  36 387-389
  • 7 Bohus M, Haaf B, Simms T. et al . Effectiveness of inpatient dialectical behavioral therapy for borderline personality disorder: a controlled trial.  Behavior Research and Therapy. 2004;  42 487-499
  • 8 Kröger C, Schweiger U, Sipos V. et al . Effectiveness of dialectical behaviour therapy for borderline personality disorder in an inpatient setting.  Behaviour Research and Therapy. 2006;  44 1211-1217
  • 9 Kleindienst N, Limberger M F, Schmahl C. et al . Do improvements after inpatient dialectial behavioral therapy persist in the long term? A naturalistic follow-up in patients with borderline personality disorder.  Journal of Nervous and Mental Diseases. 2008;  196 847-851
  • 10 Dyer A, Priebe K, Steil R. et al . Dialektisch Behaviorale Therapie zur Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung mit schweren Störungen der Emotionsregulation.  Verhaltentherapie und Psychosoziale Praxis. 2009;  41 283-307
  • 11 Sipos V, Schweiger U. Dialektisch Behaviorale Therapie für Patienten mit Essstörung. Stuttgart; Kohlhammer 2010
  • 12 Van den Bosch L M, Verheul R, Schippers G M. et al . Dialectical Behavior Therapy of borderline patients with and without substance use problems. Implementation and long-term effects.  Addictive Behaviors. 2002;  27 911-923
  • 13 Linehan M M, Schmidt H, Dimeff L A. et al . Dialectical behavior therapy for patients with borderline personality disorder and drug-dependence.  American Journal on Addictions. 1999;  8 279-292
  • 14 Linehan M M, Dimeff L A, Reynolds S K. et al . Dialectical behavior therapy versus comprehensive validation therapy plus 12-step for the treatment of opioid dependent women meeting criteria for borderline personality disorder.  Drug and Alcohol Dependence. 2002;  67 13-26
  • 15 Kienast T, Foerster J. Psychotherapy of personality disorders and concomitant substance dependence.  Curr Opin Psychiatry. 2008;  21 619-624

Dipl.-Psych. Hans Gunia

Psychologischer Psychotherapeut

Heidelberger Landstr. 171

64297 Darmstadt

Email: hans.gunia@t-online.de

Prof. Dr. Martin Bohus

Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit

J5

68159 Mannheim

Email: martin.bohus@zi-mannheim.de

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