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Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis 2/2017

Open Access 01.04.2017 | Psychiatrie

Hashimoto-Enzephalopathie

Eine organische Differenzialdiagnose von Psychosen

verfasst von: Dr. Matthäus Fellinger, Fabian Friedrich, Florian Vafai Tabrizi, Josef Baumgartner, Nilufar Mossaheb

Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis | Ausgabe 2/2017

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Zusammenfassung

Die Hashimoto-Enzephalopathie (HE) auch bekannt als steroidresponsive Enzephalopathie assoziiert mit Autoimmunthyreoiditis (SREAT) ist eine seltene, jedoch aufgrund mangelndem Bewusstsein und unklaren Diagnosekriterien möglicherweise unterdiagnostizierte Erkrankung. Die Symptomatik ist vielfältig und kann von leichter kognitiver Beeinträchtigung bis zum Status epilepticus reichen, oftmals zeigen sich Wesensveränderungen, Verwirrtheit, subakute kognitive Defizite, Krampfanfälle, Bewegungsstörungen sowie psychiatrische Symptome wie Halluzinationen, Wahn und Depressionen. Im hier dargestellten Fall wird die Symptomatik und differenzialdiagnostische Überlegung einer HE am Beispiel einer 40-jährigen Patientin diskutiert, die mit akustischen Halluzinationen, depressiver Verstimmtheit, regelmäßigen Anfällen und kognitiven Defiziten zur stationären Aufnahme kam.
Hinweise
Weitere Literatur beim Verfasser

Einleitung

Die Hashimoto-Enzephalopathie (HE), erstmals 1966 von Brain beschrieben, auch bekannt als steroidresponsive Enzephalopathie assoziiert mit Autoimmunthyreoiditis (SREAT) ist eine oftmals unterdiagnostizierte Erkrankung mit einer geschätzten Prävalenz von ca. 2:100.000. Sie betrifft häufiger Frauen (4:1) und tritt primär im 5. bis 6. Lebensjahrzehnt auf, wenngleich etwa ein Fünftel aller in der Literatur berichteten Fälle Kinder sind.
Charakterisiert ist sie durch eine unspezifische Enzephalopathie, die durch eine Bewusstseins- und Befindlichkeitsveränderung und dem Vorliegen von Thyreoperoxidase-Antikörpern (TPO-AK) und/oder Thyreoglobulin-Antikörpern (TG-AK) bei Ausschluss sonstiger ursächlicher Erkrankungen gekennzeichnet ist. Das klinische Bild ist pleomorph, ähnlich einer Vielzahl an psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen. Entsprechend kann die Symptomatik von leichter kognitiver Beeinträchtigung bis zum Status Epilepticus reichen. Oftmals zeigen sich Wesensveränderungen wie Verwirrtheit, kognitive Einschränkungen, Amnesien, Ataxie, Anfälle, Myoklonus und psychiatrische Symptome wie Halluzinationen, Wahn und Depressionen (Details s. Tab. 1).
Tab. 1
Symptomatik und apparative Befunde bei HE-Patienten in Prozent des gesamten Kollektivs. (Adaptiert nach [1])
Klinik
[%]
– Krämpfe
47
– Verwirrung
46
– Sprachstörung
37
– Gedächtnisstörung
43
– Gangstörung
27
– Verfolgungswahn
25
– Myoklonus
22
– Kopfschmerzen
16
– Koma
15
– Depression
12
– Isoliert fortschreitende kognitive Beeinträchtigung
11
– Isolierte psychiatrische Erkrankung
10
– Fieber
7
Diagnostik
[%]
– Anti-TPO-AK und Anti-TG-AK im Serum
69
– Leichte bis mittelschwere Proteinerhöhung im Liquor, Medianwert 0,71 g/L [0,13-7,65]
82
– Abnormales EEG (typisch: diffuse Verlangsamung ohne epileptische Aktivität)
82
  – EEG übereinstimmend mit Enzephalopathie
70
  – EEG übereinstimmend mit epileptischen Anfällen
14
– Auffälliges cMRT (typisch: unspezifische fokale und konfluierende Hyperintensitäten der weißen Substanz)
52
– Auffällige Einzelphotonen-Emissions-CT (SPECT)
82
  – Davon globale Hypoperfusion
9
  – Davon fokale Hypoperfusion
73
TPO-AK Thyreoperoxidase-Antikörper; TG-AK Thyreoglobulin-Antikörper
Psychiatrische Symptome als Erstmanifestation wurden sowohl bei Kindern als auch bei erwachsenen Patienten beobachtet. Zu den Symptomen gehören akute Psychosen, formale Denkstörungen, sozialer Rückzug, Depression, rasch fortschreitende Demenz mit psychotischen Episoden, Rigidität und Bewusstseinsfluktuationen, die laut dem Review von Montagna et al. [3] in allen Fällen im Zusammenhang mit Halluzinationen (visuell und auditiv) stehen.
Die Ausprägung und der Verlauf der psychiatrischen Symptomatik kann von unspezifisch chronisch bis hin zu einem rasch progredienten delirantenweitg Zustandsbild oftmals mit begleitender neurologischer Symptomatik reichen.
Die Hashimoto-Enzephalopathie ist eine seltene, möglicherweise unterdiagnostizierte Erkrankung
Die Pathogenese der HE als auch deren Beziehung zur Hashimoto-Thyreoditis sind noch unklar. Als mögliche Mechanismen werden derzeit eine autoimmun bedingte Vaskulitis des ZNS mit oder ohne Immunkomplexablagerungen, eine Autoimmunreaktion auf von der Schilddrüse und dem ZNS geteilten Antigenen oder die toxische Wirkung von Thyreotropin freisetzendem Hormon (TRH) im ZNS diskutiert.
Während die meisten Fälle von HE bei Patienten mit euthyreoter oder leicht hypothyreoter Stoffwechsellage diagnostiziert werden, liegt selten auch eine Hyperthyreose vor. Obligat für die Diagnostizierung ist das Vorhandensein erhöhter Schilddrüsen-Antikörper- (SD-AK-)Titer (Anti-TPO- und/oder Anti-TG) im Serum und Liquor. Charakteristischerweise finden sich zu je etwa 80 % eine leichte bis mittelschwere Proteinerhöhung im Liquor und diffuse Verlangsamungen ohne epileptische Aktivität im EEG, deren Ausprägung mit dem klinischen Bild korreliert. Andere EEG-Anomalien umfassen typische und atypische „triphasic waves“ und frontale intermittierende rhythmische Delta-Aktivitäten (FIRDA). Hingegen zeigen sich in etwa der Hälfte aller HE-Fälle keine Auffälligkeiten in der Bildgebung. Charakteristisch in der kranialen MRT sind unspezifische fokale und konfluierende Hyperintensitäten der weißen Substanz, globale oder fokale Hypoperfusion in der SPECT bzw. ein Hypometabolismus im 18F-FDG-PET (Tab. 1).
Nach Ausschluss einer möglichen sonstigen Ätiologie wird bei oben beschriebener Klinik und Laborkonstellation, neben der symptomorientierten Therapie, die Gabe von Steroiden empfohlen. Hinsichtlich der genauen Dosierung und Behandlungsdauer von First- und Second-line-Therapien liegen derzeit noch nicht ausreichend evidenzbasierte Studien bzw. Richtlinien vor. Es besteht jedoch ein weitgehender Expertenkonsensus über die Anwendung einer First-line-Therapie mit intravenösem Methylprednisolon in einer Dosis von 500–1000 mg/Tag für etwa 5 Tage bzw. oralem Prednison (1–2 mg/kg/Tag) als isolierte Therapie oder nach i. v. Therapie mit schrittweiser Dosisreduktion und Erhaltungstherapie für 1–2 Jahre. Als Second-line-Therapien stehen Immuntherapien wie Azathioprin, Methotrexat, Rituximab, Mycophenolat, Immunglobuline und Plasmapherese zur Verfügung. In etwa 75–90 % der Fälle kommt es zur Vollremission, wenngleich auch von letalen Ausgängen berichtet wird.
Trotz wachsendem Bewusstsein für Autoimmunprozesse bei psychiatrischer Symptomatik wird die HE als Differenzialdiagnose oftmals nicht in Erwägung gezogen. Der dargestellte Fall einer 40-jährigen Frau mit neuropsychiatrischer Symptomatik zeigt die Notwendigkeit einer detaillierten organischen Abklärung und interdisziplinären Zusammenarbeit auf.

Kasuistik

Eine 40-jährige Patientin wurde aufgrund neuerlicher Exazerbation einer seit mehreren Jahren vorbestehenden psychotischen und depressiven Symptomatik an unserer Station mit Psychose-Schwerpunkt stationär aufgenommen. Anamnestisch waren traumatische Lebensereignisse, herausfordernde Lebenssituationen als auch eine positive Familienanamnese für Schizophrenie-Spektrum-Erkrankungen erhebbar. Zusätzlich erlitt die Patientin vor 5 Jahren erstmals einen Grand-Mal-Anfall mit Zeichen erhöhter Erregungsbereitschaft und epilepsiespezifischen Paroxysmen im EEG bei unauffälligem cMRT. Trotz antiepileptischer Einstellung mit Topiramat 350 mg/Tag und Pregabalin 200 mg/Tag traten weiterhin häufig Anfälle auf. Seither kam es zu einem deutlichen Absinken des psychosozialen Funktionsniveaus mit Verlust des Arbeitsplatzes und deutlicher Einschränkung des sozialen Netzwerkes mit sozialem Rückzug. Von somatischer Seite war eine mit Euthyrox 150 μg/Tag behandelte Hashimoto-Thyreoiditis vorbekannt.
Zum Aufnahmezeitpunkt war die Patientin wach, bewusstseinsklar und allseits orientiert. Mnestik und Aufmerksamkeit waren grobklinisch unauffällig. Konzentration sowie Auffassung wurde als subjektiv reduziert angegeben. Im Duktus war sie kohärent und zielführend bei reduziertem Tempo. Es bestand eine innere Unruhe. Des Weiteren waren Derealisations- sowie Depersonalisationsepisoden erhebbar, als auch kommentierende und imperative Stimmen sowie flüchtige gustatorische Halluzinationen und Bedrohungs- und Verfolgungsgefühle. In der Stimmungslage war sie depressiv, im Affekt starr. Erhebbar waren Panikattacken, Angst vor großen Menschenansammlungen, sowie fragliche zwanghaft imponierende Waschhandlungen unter dem Einfluss der Stimmen. Die Patientin beschrieb Ein- und Durchschlafstörungen sowie Früherwachen mit einer Gesamtschlafdauer von 3–4 Stunden. Trotz zum Teil konkreter Suizidgedanken zeigte sich die Patientin von akuter suizidaler Einengung distanziert und paktfähig. Eine Fremdgefährdung bestand zu keinem Zeitpunkt. Der Konsum von Alkohol oder illegalen Substanzen wurde negiert, es ließ sich jedoch ein Analgetikaabusus bei rezidivierendem postiktalem Kopfschmerz erheben. Im neurologischen Status zeigten sich eine sakkadierte Blickfolge, eine leicht reduzierte Feinmotilität links mehr als rechts in der oberen Extremität (OE), seitengleich übermittellebhaft auslösbare Sehnenreflexe in der OE, ein bds. positiver Trömner-Reflex, ein ungerichteter unsicherer Unterberger-Tretversuch und ein diskret ungerichteter und unsicherer Strich- und Blindgang.
In Anbetracht der Konstellation einer psychotischen Symptomatik, Anfällen, einer vorbekannten Autoimmunthyreoiditis sowie subjektiver zunehmender Vergesslichkeit und Beeinträchtigung in der Bewältigung des Alltags erfolgte eine erweiterte organische Abklärung. Die laborchemische Untersuchung zeigte allseits unauffällige Parameter auf, inkl. Vitamin B12, Folsäure, Vitamin D und Syphilis-Serologie. Im cMRT zeigte sich eine geringe Volumenminderung frontal im Bereich der Mantelkante sowie einzelne kleinste punktförmige FLAIR-hyperintense Signalalterationen im Marklager bds., im FDG-PET-CT ein FDG-Hypometabolismus insulär links und zerebellär, deren Auffälligkeit als evtl. medikamentös induziert interpretiert wurden. Im Lumbalpunktat fand sich eine normale Zellzahl mit lymphomonozytärem Zellbild sowie eine geringe Erhöhung von Eiweiß (50,3 [20–40] mg/dl), Albumin (36,5 [11–35] mg/dl), Albuminquotient (8,2 [0–6,6]/1000) und IgG (3,59 [1–3] mg/dl). Weder im Liquor noch im Serum zeigten sich Hinweise auf Vorliegen onkoneuronaler Antikörper (wie Hu, Yo, Ri, Tr, CV2, Amphiphysin, Ma1/2), PKCgamma, CARPVIII, ARHGAP26 oder bestimmter tumor- (SOX1) bzw. nichttumorassoziierter Antikörper (GAD65, AK5, Homer3). Des Weiteren fanden sich keine Hinweise für das Vorliegen von neuronalen Oberflächenrezeptorantikörpern wie etwa gegen den NMDAR, AMPAR, GABA(B)R, LGI1 oder CASPR2. Die Autoantikörper waren bis auf erhöhte Antikörper gegen Parietalzellen 1:2560, die durch die Hashimoto-Thyreoiditis erklärbar waren und grenzwertig erhöhten Ro-Antikörpern (5,4 [<5] U/ml) unauffällig. In der testpsychologischen Untersuchung der kognitiven Leistung zeigten sich Beeinträchtigungen im schlussfolgernden Denken hinsichtlich der Aufmerksamkeit und Konzentration sowie in Bezug auf visuelle und verbale Merkfähigkeit. Im EEG zeigten sich bei wiederholten Anfällen ohne Zungenbiss, Harnverlust oder eindeutigem Bewusstseinsverlust jedoch mit Stürzen, tonischem Verkrampfen in Fötusstellung und Kloni keine Zeichen erhöhter zerebraler Erregungsbereitschaft. Jedoch wies das EEG Zeichen einer leichten diffusen Hirnfunktionsstörung mit Anhäufung generalisierter Theta-Wellen und -gruppen auf. Zur Abklärung der Anfallsereignisse erfolgte ein 5‑tägiges neurologisches Video-EEG-Monitoring, in dem weder habituelle Anfälle noch interiktale epilepsietypische EEG-Veränderungen aufgezeigt werden konnten. Es wurde der Verdacht auf dissoziative Anfälle erhoben. Aufgrund der epilepsiespezifischen Vorbefunde als auch der Vermutung zweier Anfallstypen (sowohl dissoziativ als auch evtl. epileptisch) wurde die antiepileptische Medikation auf Valproinsäure 900 mg/Tag umgestellt. Im Rahmen der stationären Behandlung kam es unter einer Therapie mit Aripiprazol 30 mg/Tag, Quetiapin 1300 mg/Tag, Trazodon 300 mg/Tag und nach Umstellung von Sertralin 150 mg/Tag auf Venlafaxin 225 mg/Tag zur deutlichen Stabilisierung des Zustandsbildes.
Im Rahmen eines multidisziplinären Boards wurde in Zusammenschau der Befunde und der deutlichen Verbesserung unter der beschriebenen Medikation ein aktueller neurodegenerativer Prozess zunächst ausgeschlossen und eine Verlaufskontrolle empfohlen. Die Patientin wurde in klar gebessertem Zustandsbild in euthymer STL, im Hintergrund stehender psychotischer Symptomatik und einer Reduktion der Anfallshäufigkeit entlassen.
Bei erneuter Verschlechterung der depressiven und der psychotischen Symptomatik und Erhöhung der Anfallsfrequenz erfolgte nach einem Jahr eine neuerliche stationäre Aufnahme. Ambulant war zwischenzeitlich Quetiapin auf 800 mg/Tag reduziert und Valproinsäure auf Levetiracetam 2000 mg/Tag umgestellt worden. Wegen der persistierenden Kopfschmerzsymptomatik mit Analgetikaabusus erfolgte eine Umstellung von Venlafaxin auf Duloxetin 120 mg/Tag. Bei zwar deutlicher Besserung der Stimmungslage, jedoch weiterbestehenden akustischen Halluzinationen unter Quetiapin XR 900 mg/Tag und Aripiprazol 30 mg/Tag erfolgte überlappend eine Umstellung von Aripiprazol auf Risperidon mit einer Aufdosierung auf 7 mg/Tag, welches zu einer deutlichen Verbesserung (Stimme nur noch unverständliches Murmeln), aber keinem Sistieren der Symptomatik führte.
Das Kontroll-cMRT war unverändert. Im FDG-PET-CT zeigten sich deutlicher als in der Voruntersuchung kräftig speichernde Stammganglien sowie zerebelläre Minderspeicherung.
Die Liquordiagnostik war unauffällig. Die Bestimmung von Markern für antikörpermediierte Autoimmunerkrankungen des ZNS im Serum und Liquor zeigten wie zuvor keine Pathologie auf.
Eine virologische Abklärung des Liquors (Herpes simplex-, Varizella-Zoster-, Entero-Virus) als auch des Serums (Herpes simplex-, Varizella-Zoster-, Cytomegalie-, Epstein-Barr-, Influenza-, Adeno-, Entero-, Coxsackie-, Masern-, Mumps-, Hepatitis-A/B/C-Virus als auch HIV und Mykoplasmen) zeigten allseits eine negative Befundkonstellation.
Von immunologischer Seite konnten deutlich erhöhte Thyreoglobulin- (414 IU/ml – pos. ab 115 IU/ml) und Thyreoperoxidase-AK (127 IU/ml – pos. ab 34 IU/ml) festgestellt werden. Eine echographische Untersuchung der Schilddrüse zeigte einen unauffälligen für Autoimmunthyreoiditis typischen Befund. In der testpsychologischen Untersuchung der kognitiven Leistung zeigten sich bei durchschnittlich prämorbidem Ausgangsniveau in allen untersuchten Leistungsparametern unterdurchschnittliche Ergebnisse ohne Veränderung im Vergleich vor Vorjahresuntersuchung. Bei einer Zunahme der Anfallshäufigkeit (bis zu 4‑mal/Woche) mit polymorphem Erscheinungsbild mit nur teilweisem Bewusstseinsverlust und tonisch-klonischen Bewegungen, wurde zunächst Levetiracetam ohne Erfolg auf 3000 mg/Tag erhöht. Ein neuerliches 5‑tägiges Video-EEG-Monitoring zur weiteren Abklärung konnte 2 dissoziative Anfälle ohne jegliche EEG-Veränderungen aufzeichnen. Die antikonvulsive Medikation wurde von Levetiracetam 3000 mg/Tag auf Topiramat 100 mg/Tag umgestellt.
In Zusammenschau der klinischen Symptomatik (der im Hintergrund weiterhin fluktuierenden psychotischen Symptomatik, wiederkehrenden dissoziativen sowie zumindest zuvor auch fallweise epileptischen Anfällen, weiterbestehenden kognitiven Beeinträchtigungen) und der Befundlage (diffuse EEG-Veränderungen, den cMRT- sowie FDG-PET-Befunden, positiven TPO- als auch TG-Antikörpern) wurde differenzialdiagnostisch von neurologischer und psychiatrischer Seite eine Hashimoto-Enzephalopathie diskutiert. Nach Aufklärung der Patientin und mit ihrem Einverständnis erfolgte eine Kortisontherapie mit initial 5‑tägiger Gabe von Soludacortin 1 g/Tag iv. Bei guter Verträglichkeit erfolgte im Anschluss eine Umstellung auf Aprednisolon 25 mg/Tag.
Im Rahmen des stationären Aufenthalts kam es zu einer deutlichen Besserung der initialen Symptomatik im Sinne einer Abnahme der akustischen Halluzinationen und der Ängste und einer Besserung der Stimmungslage. Ein eindeutiger zeitlicher Zusammenhang mit der Steroidstoßtherapie konnte aktuell noch nicht bestätigt werden. Die Patientin konnte schließlich in euthymer Stimmungslage in allgemein gebessertem Zustandsbild entlassen werden.

Diskussion

Der hier dargestellte Fall soll vorrangig zur Schärfung des Bewusstseins und Wissens über die HE dienen. Die HE ist zwar eine seltene Erkrankung, bleibt aber vermutlich häufig insbesondere in der Psychiatrie unerkannt. Nachdem psychiatrische Symptome auch als primäre bzw. Erstsymptome auftreten (Tab. 1) und jenen einer primär schizophrenen Psychose gleichen können, erscheint eine differenzialdiagnostische Berücksichtigung sinnvoll; sogar dann, wenn keine Schilddrüsenerkrankungen vorbekannt ist bzw. normale TSH-Werte vorliegen, wie in 30 % der Fälle üblich. So wird von einigen Experten auch empfohlen, systematisch bei unklarer Enzephalopathie Schilddrüsenantikörper (TPO- und Tg-AK) im Serum und Liquor zu testen.
HE sollte bei allen Patienten mit einer Enzephalopathie in Betracht gezogen werden
Die HE ist eine Ausschlussdiagnose, daher ist der Ausschluss anderer Ursachen einer Enzephalopathie einschließlich ZNS-Infektionen, metabolischer Enzephalopathien, struktureller Läsionen, ZNS-Vaskulitis, Toxinen, akuter disseminierter Enzephalomyelitis, Autoimmun-Enzephalopathien und neurodegenerativer Erkrankungen grundlegend. Zur besseren Übersicht sind die diagnostischen Kriterien von Castillo et al. [2] in Tab. 2 und ein Algorithmus zur diagnostischen Abklärung in Abb. 1 angeführt.
Tab. 2
Diagnostische Kriterien der Hashimoto-Enzephalopathie. (Adaptiert nach [2])
1. Enzephalopathie, die durch kognitive Beeinträchtigung und ein oder mehrere der folgenden Merkmale gekennzeichnet ist: neuropsychiatrische Merkmale (z. B. Halluzinationen, Wahnvorstellungen oder Paranoia), Myoklonus, generalisierte tonisch-klonische oder partielle Anfälle oder fokale neurologische Defizite
2. Vorhandensein von Serum TPO-AK
3. Eu- oder leichte Hypothyreose (d. h. TSH b 20,0 mIU/L), die keine Enzephalopathie darstellen würde
4. Keine Hinweise für Infektion, toxische, metabolische oder neoplastische Prozesse in der Blut-, Urin- oder Liquor-Analyse
5. Kein serologischer Nachweis derzeit diagnostizierbarer neuronaler bzw. paraneoplastischer Autoantikörper, die auf eine andere Diagnose verweisen
6. Keine Auffälligkeiten in bildgebenden Untersuchungen, die vaskuläre, neoplastische oder andere strukturelle Läsionen aufweisen, die erklärend für eine Enzephalopathie wären
7. Vollständige oder nahezu vollständige Rückkehr zum neurologischen Ausgangszustand des Patienten nach Kortikosteroidbehandlung
Unser Fall zeigt die Bedeutung einer gründlichen organischen Abklärung bei Psychosen, um etwaige ursächliche und behandelbare Erkrankungen zu erkennen. Durch das Wissen um Erkrankungen wie der HE, aber auch etwa der Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis (siehe auch den Artikel von Breu et al. in dieser Ausgabe) wächst, nicht zuletzt mithilfe von Fallberichten zunehmend das Bewusstsein für zugrunde liegende Erkrankungen, die einer spezifischen Abklärung und Behandlung bedürfen. Eine solche beginnt mit einer adäquaten medizinischen Untersuchung, im Sinne der ärztlichen Krankenuntersuchung. Diese ist bei Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen, die, verglichen mit der allgemeinen Bevölkerung, häufiger an körperlichen Erkrankungen leiden und vielfach medizinisch unterversorgt sind, von umso größerer Bedeutung. Sowohl für eine bestmögliche Behandlung als auch die weitere Erforschung der HE mit noch vielen unbeantworteten Fragen, z. B. zum Pathomechanismus, der Symptomdivergenz, Genderunterschieden und Therapie, ist eine enge multidisziplinäre medizinische Zusammenarbeit essenziell. Parallel stellt die gemeinsame Erarbeitung eines internationalen und multidisziplinären Konsenses für die Definition und das diagnostische Vorgehen der HE eine Priorität dar und bedarf einer entsprechenden Adaption für das jeweilige Fachgebiet, z. B. als Differenzialdiagnose der Psychose in der Psychiatrie.

Fazit für die Praxis

  • Die Hashimoto-Enzephalopathie (HE) ist eine seltene, jedoch möglicherweise auch unterdiagnostizierte Erkrankung, deren vielfältige Symptomatik u. a. jene schwerer psychiatrischer und auch neurologischer Erkrankungen imitieren kann.
  • Zu je etwa 80 % bestehen diffuse EEG-Veränderungen bzw. eine Proteinerhöhung im Liquor. Bildgebende Verfahren können oftmals unspezifische bzw. unauffällige Resultate aufweisen.
  • Die HE ist eine Ausschlussdiagnose und sollte bei allen Patienten mit einer Enzephalopathie unklarer Ätiologie in Betracht gezogen werden und eine Bestimmung der SD-AK in Serum und Liquor zur Folge haben.
  • Die Behandlung mit Steroiden ist effektiv.

Danksagung

Wir bedanken uns bei unserer Patientin für die freundliche Zustimmung zur Publikation dieses Fallberichts.
Open access funding provided by Medical University of Vienna.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

M. Fellinger, F. Friedrich, F. Vafai Tabrizi,, J. Baumgartner und N. Mossaheb geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. Alle Patienten, die über Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts zu identifizieren sind, haben hierzu ihre schriftliche Einwilligung gegeben.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Laurent C et al. (2016) Steroid-responsive encephalopathy associated with autoimmune thyroiditis (SREAT): Characteristics, treatment and outcome in 251 cases from the literature. Autoimmun Rev 15(12):1129–1133 Laurent C et al. (2016) Steroid-responsive encephalopathy associated with autoimmune thyroiditis (SREAT): Characteristics, treatment and outcome in 251 cases from the literature. Autoimmun Rev 15(12):1129–1133
2.
Zurück zum Zitat Castillo P et al. (2006) Steroid-Responsive Encephalopathy Associated With Autoimmune Thyroiditis. Arch Neurol 63(2):197–202 Castillo P et al. (2006) Steroid-Responsive Encephalopathy Associated With Autoimmune Thyroiditis. Arch Neurol 63(2):197–202
Metadaten
Titel
Hashimoto-Enzephalopathie
Eine organische Differenzialdiagnose von Psychosen
verfasst von
Dr. Matthäus Fellinger
Fabian Friedrich
Florian Vafai Tabrizi
Josef Baumgartner
Nilufar Mossaheb
Publikationsdatum
01.04.2017
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
psychopraxis. neuropraxis / Ausgabe 2/2017
Print ISSN: 2197-9707
Elektronische ISSN: 2197-9715
DOI
https://doi.org/10.1007/s00739-017-0381-y

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